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Attac Stellungnahme zur Diskussion rund um den Reformvertrag

In den vergangenen Wochen ist in der Öffentlichkeit der EU-"Reformvertrag" sehr kontroversiell diskutiert worden. Das Engagement von Attac gegen den Reformvertrag hat viele Diskussionen ausgelöst: Viele Menschen haben sich gefragt wie es möglich ist, dass Attac scheinbar auf der gleichen Seite steht wie etwa nationalistische oder nationalchauvinstische Gruppen, die aus populistischen Gründen die EU prinzipiell ablehnen. Deshalb begründen wir in dieser Stellungnahme nochmals unser Engagement und bekräftigen gleichzeitig unsere pro-europäische Haltung, aus der heraus wir den EU-Reformvertrag - nicht die EU - ablehnen und einen konstruktiven Diskurs fordern.

GEGEN DEN VERTRAG VON LISSABON - FÜR EIN SOZIALES UND DEMOKRATISCHES EUROPA

Gerade in Österreich wurde der Diskurs über den Vertrag vielfach mit unsachlichen Argumenten geführt und für anti-europäische Stimmungsmache missbraucht. Umgekehrt wurden progressive und EU-freundliche KritikerInnen des EU-Reformvertrages von zahlreichen Medien in einen Topf mit rechten NationalistInnen und EU-GegnerInnen geworfen. Das aktuelle parteistrategische Hick-Hack der Regierungsparteien behindert zusätzlich die so wichtige sachliche Diskussion über die grundlegende Richtung der europäischen Integration.

Attac hat den Prozess der europäischen Einigung prinzipiell immer begrüßt. Wir sehen jedoch den sozialen Zusammenhalt und Frieden in Europa durch die einseitige Ausrichtung auf wirtschaftliche Freiheiten, die inner- und außereuropäische Standortkonkurrenz bei Löhnen, Arbeitsrechten und Steuern bei gleichzeitigem Fehlen effektiver sozialpolitischer Maßnahmen sowie der sich klar abzeichnenden Tendenz zur Aufrüstung massiv gefährdet. Es wäre daher aus unserer Sicht fatal, auf grundlegende Kritik an der Europäischen Union zu verzichten und dieses Feld ganz den rechten PopulistInnen zu überlassen.

DEMOKRATEDEFIZIT:

Wiewohl der Lissabonvertrag einige demokratiepolitische Verbesserungen vorsieht, bleibt unter dem Strich ein eklatantes Demokratiedefizit.

+ Das Europäische Parlament erhält kein Initiativrecht für Gesetze, es hat auch weiterhin weniger legislative Macht als der Rat und wird in entscheidenden Bereichen nur angehört (Außen- und Sicherheitspolitik, Steuerpolitik, Euratom, Grundzüge der Wirtschaftspolitik?).

+ Die Kommission, eigentlich exekutives Organ der Union, nimmt auch legislative und judikative Funktionen wahr. Die einzelnen Mitglieder der Kommission können von den ParlamentarierInnen weder gewählt noch abgesetzt werden.

+ Die Möglichkeiten eines europäischen BürgerInnenbegehrens bleiben völlig unzureichend, die EU-Institutionen werden nicht zum Handeln gezwungen. Für den Verlust der Möglichkeiten demokratisch gewählter Organe auf nationaler Ebene (etwa bei Geld-, Handels-, und Wettbewerbspolitik) wird keinerlei Ausgleich auf europäischer Ebene geschaffen.

+ Die Europäische Zentralbank (EZB) bleibt außerhalb demokratischer Kontrolle und behält als ihr vorrangiges Ziel die Preisstabilität, die sogar zum Unionsziel aufsteigt.


VERSCHLECHTERUNGEN IM BEREICH WIRTSCHAFTSPOLITIK:

Die massiven Verschlechterungen im Bereich der wirtschaftpolitischen Ausrichtung der Union überwiegen die unzureichenden demokratiepolitischen Verbesserungen.

+ Trotz radikalem Marktversagen auf den Finanzmärkten, bei öffentlichen Gütern oder Lebensmitteln bleibt eine "offene Marktwirtschaft mit unverfälschtem Wettbewerb" der ideologische Kern der EU.

Standortkonkurrenz und Steuerwettbewerb werden Sozialdumping vorantreiben, Armut schaffen und den sozialen Zusammenhalt in Europa weiter auflösen. Diese Dynamik wird durch die neue Pflicht zu Budgetüberschüssen bei guter Konjunktur noch verschärft: Der Druck auf Sozialabbau und Privatisierungen steigt.

+ Die Schaffung öffentlicher Dienstleistungen auf EU-Ebene ist nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Der freie Wettbewerb gefährdet die noch verbliebenen öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung oder Trinkwasser.

+ Das Mandat für die globale Durchsetzung von Freihandel wird verschärft und ausgeweitet auf grenzüberschreitende Direktinvestitionen. Die nationalen Parlamente dürfen bei Handelsabkommen nicht mehr ratifizieren:

Demokratieabbau.

+ Die Charta der Grundrechte gilt nicht im Recht der Mitgliedstaaten und schafft ?keine neuen Rechte?. Die Grundrechte genießen keinen Vorrang vor dem Wettbewerbsrecht. So wird die Charta keine einzige EU-BürgerIn vor Arbeitslosigkeit, Armut oder Obdachlosigkeit bewahren. Da Großbritannien und Polen Ausnahmeklauseln erhalten, gibt es bei den Grundrechten ein Kerneuropa mit Peripherie. Die Konkurrenz ist Pflicht, die Grundrechte sind freiwillig.

+ Die Schaffung einer Rüstungsagentur, die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zur permanenten ?Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten? sowie die Erlaubnis für Auslandsmilitäreinsätze ohne UN-Mandat machen die EU rechtlich erstmals zu einer militärischen Union ? ganz im Gegensatz zum Gründungsgedanken.

In einer Gesamtbilanz bildet der Vertrag keine Grundlage für den Aufbau einer sozialeren und ökologischeren geschweige denn friedlicheren EU. Der Kurs der europäischen Integration würde mit dem Lissabonvertrag noch schneller in die falsche Richtung weitergehen und die Akzeptanz der EU und das Vertrauen der Menschen weiter abnehmen.

WIE SETZEN WIR UNSERE ARBEIT AUF EUROPÄISCHER EBENE FORT?

Attac war in den letzten Jahren konstant um konstruktive Kritik am wirtschaftspolitischen Kurs der Europäischen Union bemüht. Wir haben unsere Arbeit zunehmend europäisch koordiniert, den ?Alternativen Ecofin? ins Leben gerufen, mit dem ?Kritischen EU-Buch? einen Jahresbestseller herausgegeben und zahllose Initiativen gesetzt, um eine kritische, europäische Öffentlichkeit mitaufzubauen.

In den "10 Prinzipien für einen demokratischen Vertrag" haben 17 europäische Attac-Organisationen eine gemeinsame Alternative für eine demokratische, soziale und friedliche EU vorgelegt:


Seither haben wir unser europäisches Engagement kontinuierlich intensiviert. Vom 1. bis zum 6. August 2008 findet zum ersten Mal eine europäische Attac Sommeruniversität statt. Attac AktivistInnen aus allen europäischen Attac Gruppen erarbeiten dort gemeinsam europäische Alternativen und Strategien für deren Umsetzung.
www.european-summer-university.eu


Vom 17. bis zum 21. September findet in Malmö/Schweden das 5. Europäische Sozialforum statt, an dessen Organisation Attac-Gruppen maßgeblich beteiligt sind. Auch dort stehen die Erarbeitung von Alternativen und Mobilisierungen für soziales, ökologisches und demokratisches Europa im Mittelpunkt.


Anschließend an diese europäischen Treffen werden wir in Österreich diese Arbeit für ein soziales und demokratisches Europa mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen intensivieren. Wir möchten alle herzlich zur Teilnahme an diesen Begegnungen und Diskussionen einladen, um an der Erarbeitung gemeinsamer Alternativen und ihrer Umsetzung mitzuwirken. 

Der Vorstand von Attac Österreich
Wien, im Juli 2008 

PS: Die europäischen Attacs haben soeben auch ein Buch über die Kritik am
Vertrag von Lissabon herausgegeben:
www.vsa-verlag.de/vsa/pdf_downloads/VSA_Viotto_Fisahn_Europa.pdf