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10 Jahre Lehman-Pleite – nach der Krise ist vor der Krise

Ein Attac-Gastkommentar im Standard

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von Michael Eigner und Martin Stark

Das Finanzsystem muss der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt. Liberalisierung und Deregulierung haben ein Machtgefälle erzeugt, das es Märkten aber weiterhin ermöglicht, Entscheidungen zu diktieren

Am 15. September jährt sich die Pleite von Lehman Brothers zum zehnten Mal. Die Kettenreaktion, die darauf folgte, löste ein Erdbeben im globalen Finanzsystem aus. Die Bestürzung über das Ausmaß der sich abzeichnenden Finanz- und Wirtschaftskrise war groß, und Rufe nach einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel wurden laut. "Der Markt, der immer recht hat, das ist vorbei! Mit dem Ende des Finanzkapitalismus geht eine Epoche zu Ende", tönte etwa der französische Präsident Nicolas Sarkozy nur wenige Tage später. Es war die Anerkennung des Offensichtlichen. Die einseitige Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte, die auf Deregulierung, Privatisierung und Abbau des Sozialstaates setzte, führte in das erwartbare Desaster. Bemerkenswert war die Kritik trotzdem. Kam sie doch von einem Verfechter der Politik des blinden Vertrauens in die Marktkräfte. Sarkozy war nicht der Einzige.

Die Hoffnung der politischen Linken auf den schon lange geforderten Kurswechsel währte kurz. Was folgte, war eine beispiellose Machtdemonstration der Finanzelite aus Banken, Ratingagenturen und anderen Vertretern der Finanzindustrie, häufig auch etwas mystifizierend als "die Märkte" bezeichnet. Ihnen gefiel die Vorstellung von mehr Regulation gar nicht. So mündeten die großen Worte der Politik unmittelbar nach Ausbruch der Krise in politischen Alibiaktionen. Sie sollten den besorgten Bürgern den Eindruck von Problemlösungskompetenz vermitteln, ohne dabei am System zu kratzen.

Die aktuelle Bilanz in Sachen Krisenprävention fällt daher ernüchternd aus: Wichtige Maßnahmen wie die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, die Regulierung von Schattenbanken oder die Finanztransaktionssteuer verliefen im Sand oder wurden erst gar nicht in Angriff genommen. Die Banken sind heute durch Megafusionen noch systemrelevanter als 2008. Von einer Lösung des "Too big to fail"-Problems sind wir weiter entfernt denn je. In Österreich finden sich Maßnahmen wie "Liberalisierung des Kapitalmarktes" oder die "Förderung privater Vorsorge", die als Ursachen der Krise gelten, im aktuellen Regierungsprogramm. Kurzum: Eine Finanzkrise wie im Jahr 2008 ist heute genauso wahrscheinlich wie damals.
Sozialstaat hat ausgedient

Es war nicht allein die unterlassene Krisenprävention, welche die Ohnmacht der Politik gegenüber den Märkten deutlich machte. Nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" gelang es, die Finanzkrise zu einer europäischen Staatsschuldenkrise umzudeuten. Ihren Platz im öffentlichen Diskurs nahmen verschuldete Staatshaushalte aufgrund zu hoher Sozialausgaben ein. Die Krise habe gezeigt, dass das vielgepriesene europäische Sozialstaatsmodell ausgedient habe, erklärte der EZB-Chef und ehemalige Vizepräsident von Goldman Sachs, Mario Draghi, im Jahr 2012.

Eine neue Geschichte wurde für die Öffentlichkeit entworfen, um jene Politik fortsetzen zu können, die in die Krise führte. Es wäre nun Zeit, "zu sparen" – so der Euphemismus für Privatisierungen, Lohn- und Pensionskürzungen und den Abbau von Arbeitsrechten. Warnungen, die rigorose Kürzungspolitik würde die Krise nur verschärfen, wurden ignoriert. Millionen von Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, ihre Häuser und ihren Zugang zu sozialer Sicherheit, wie menschenwürdige Arbeitslosenunterstützung, Pensionen und Gesundheitsvorsorge.
Liberalisierung und Deregulierung

Angesichts dessen ist die Gründungsforderung von Attac dringender denn je: Das Finanzsystem muss der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt. Dieses Ziel zu erreichen ist in erster Linie eine Machtfrage. Liberalisierung und Deregulierung haben zu einem Machtgefälle geführt, das es den Finanzmärkten ermöglicht, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu diktieren und als alternativlos erscheinen zu lassen. Die enge Vernetzung zwischen Politik und Konzernmacht ist die Wurzel des Übels.

"Alle Finanzkrisen der jüngeren Geschichte sind dadurch entstanden, dass eine wirtschaftliche Elite zu viel Macht bekam. Die wichtigste Lehre aus der Krise sollte sein, dass wir Banken keinen großen politischen Einfluss mehr geben dürfen", erklärte Ex-IWF Chef Simon Johnson 2010.

Kein leichtes Unterfangen, wenn man sich die Dimensionen der Finanzlobby vor Augen führt. 94 Prozent aller Briefe an Regulierungsbehörden in den USA und Europa stammen von Interessenvertretungen der Finanzbranche, lediglich sechs Prozent von NGOs, Gewerkschaften, Wissenschafter, Wissenschafterinnen und Verbraucherschutzbehörden.
Kurswechsel notwendig

Es braucht daher eine starke und laute Zivilgesellschaft, die darum kämpft, die scheinbare Allmacht des Finanzsektors ins Zentrum des öffentlichen Diskurses zu rücken und letztlich zu brechen. Sie muss Alternativen sichtbar und der Politik wie auch den Bürgern Mut für den so dringend notwendigen Kurswechsel machen. (Martin Stark, Michael Eigner, 12.9.2018)

Michael Eigner, Studium der Philosophie und Internationalen Entwicklung an der Universität Wien. Beide engagieren sich bei Attac für eine Regulierung der Finanzmärkte.

Martin Stark, Studium der Sozioökonomie an der WU Wien. Michael Eigner, Studium der Philosophie und Internationalen Entwicklung an der Universität Wien. Beide engagieren sich bei Attac für eine Regulierung der Finanzmärkte.