News

Widerstand gegen das Freihandelsabkommen mit der EU-Tunesien (ALECA)

Neoliberalismus reimt sich hier auf Kolonialismus

Die Europäische Union verhandelt derzeit mit Tunesien über ein tief greifendes und umfassendes Freihandelsabkommen (ALECA). Europa will seinen Unternehmen den gesamten tunesischen Markt öffnen und seine Rechtsnormen durchsetzen. Dieses Abkommen könnte die sozioökonomische Situation Tunesiens verschlechtern und nur den europäischen multinationalen Unternehmen, insbesondere den französischen, Vorteile bieten.

Wir verurteilen ALECA und seinen überaus neokolonialen Charakter. In Solidarität mit den tunesischen Organisationen, die gegen dieses Abkommen sind, unterstützen wir ihre Mobilisierung gegen die von Europa auferlegte neoliberale Politik.

ALECA - Neoliberalismus reimt sich hier auf Kolonialismus.

ALECA ist die letzte Phase in der langen Kolonialgeschichte zwischen Europa und Tunesien, deren Verhältnis vor allem oft durch die Frage der Agrarflächen geprägt war.*

ALECA würde es den europäischen multinationalen Unternehmen wieder ermöglichen, die tunesischen landwirtschaftlichen Flächen zu nutzen. Andererseits strebt Europa danach, neue Absatzmöglichkeiten für seine landwirtschaftlichen Überschüsse zu finden. Einige Sektoren der tunesischen Landwirtschaft (Viehzucht, Getreide und einige Pflanzenöle) werden dann durch europäische Importe ersetzt.

Tunesien wird daher stärker vom Import von Grundnahrungsmitteln abhängig sein und seine Ernährungssouveränität verlieren. Laut UTAP (tunesischer Verband für Landwirtschaft und Fischerei) würden 250.000 Bauern bedroht sein, ihre Existenzgrundlage zu verlieren.

Aber die Landwirtschaft ist nur einer der durch den Neoliberalismus geschädigten Bereiche. 1995 wurde der Industriebereich durch ein Assoziierungsabkommen zwischen Europa und Tunesien für den Wettbewerb geöffnet. Infolgedessen verschwanden in zwei Jahrzehnten Hunderte von Unternehmen und fast eine ganze Branche, der Textilsektor. Gleichzeitig gründeten europäische Unternehmen in Tunesien Niederlassungen, denen einer Steueroase vergleichbare Privilegien gewährt werden, und deren Arbeitskräfte wenig kosten. Die Massenarbeitslosigkeit und die Armut in Tunesien sind mit diesen Mechanismen der wirtschaftlichen Herrschaft verbunden. Weit davon entfernt, die Lehren aus den Aufstandsbewegungen zu ziehen, die das Land seit einem Jahrzehnt erschüttert haben, verfolgt Europa sein unwürdiges Projekt in Tunesien.

Neue Privilegien für Europa und multinationale Unternehmen

Mit ALECA behält Europa seine Kontrolle über Tunesien, indem es sein Wirtschaftsmodell exportiert.

Die Wettbewerbsregeln sind ein Abbild des europäischen Modells des Strebens nach einem "reinem und perfektem" Wettbewerb. Die Subventionen werden schrittweise abgeschafft, die Preise für die grundlegenden Güter des täglichen Lebens können nicht mehr vom Staat festgelegt werden, und öffentliche Beihilfen werden nach europäischen Kriterien gewährt, wobei die Europäische Kommission fünf Jahre lang die direkte Kontrolle innehat.

Darüber hinaus zwingt ALECA Tunesien zur Übernahme europäischer Normen: Ein algerisches oder chinesisches Produkt, das diesen nicht entspricht, darf nicht nach Tunesien gelangen. Ziel ist es daher, einen tunesischen Markt zu schaffen, der ausschließlich für europäische Produkte bestimmt ist.

Sonderklagerechte für Konzerne

ALECA enthält auch eine Schiedsklausel, die es multinationalen Unternehmen erlaubt, Staaten vor einem Sondergericht zu verklagen, das über die nationalen Gerichte gestellt wird. Diese multinationalen Unternehmen könnten Maßnahmen zum Allgemeinwohl (Soziale Sicherung, Gesundheit, Umwelt...) sowohl in Europa als auch in Tunesien aufheben.

Diese Bestimmung hat bereits Hunderte von Millionen Dollar für Staaten gekostet, die versucht haben, die Wirtschaft zum Schutz des öffentlichen Interesses zu regulieren. Das Schlichtungssystem stellt die Profite multinationaler Konzerne über die Grundrechte. Es wurde durch europäische Mobilisierungen gegen TTIP und CETA angeprangert und muss verschwinden. Es wäre unannehmbar, es Tunesien aufzuzwingen.

Eine Sackgasse für die Probleme Tunesiens

Mit ALECA werden die produktivistischen Anforderungen des Exports die natürlichen Ressourcen Tunesiens, insbesondere das Wasser, stärker unter Druck setzen, während Tunesien bereits unter Wassermangel leidet. Die Situation verschlechtert sich mit dem Klimawandel, der vor allem durch die umweltschädliche Industrie oder die seit Jahrzehnten von Europa geförderte intensive Landwirtschaft verursacht wird. ALECA steht daher im Widerspruch zu den aktuellen Herausforderungen und Risiken und könnte eine schon kritische ökologische Situation verschlimmern.

Parallel dazu verfolgt die EU ihre Grenzkontrollpolitik. Ursprünglich hatte ALECA nicht geplant, die Mobilität der tunesischen Arbeiterschaft zu erleichtern. Der europäische Arbeitsmarkt nutzt gering qualifizierte Arbeitsmigrant*innen, wie die Hunderttausenden ohne Papiere, für die Reinigung oder das Hotel-und Gastgewerbe. Um jedoch die Unterstützung der tunesischen Regierung zu gewährleisten, verspricht Europa die Einführung eines neuen Visums mit vereinfachten Aufenthaltsbedingungen für eine privilegierte Personengruppe.

Gemäß der neoliberalen und kolonialen Logik sollen eine Handvoll Geschäftsleute und Führungskräfte reisen dürfen, die somit ein schönes Bild von den "historischen Verbindungen" zwischen Europa und Tunesien vermitteln sollen, während die Mehrheit der Bevölkerung mit Visaverweigerungen konfrontiert ist oder die gefährliche Erfahrung mit illegalen Grenzübergängen hat. In diesen Logiken der neoliberalen und repressiven Kontrolle der Migration wird Tunesien auf der untersten Stufenleiter bei der internationalen Arbeitsteilung gehalten.

Wie alle Freihandelsabkommen ist ALECA gleichbedeutend mit der Ausbeutung aller Bevölkerungsgruppen, der wirtschaftlichen und neokolonialen Ausbeutung der tunesischen Bevölkerung. Der wirtschaftliche Nutzen wird nur wenige Großunternehmen betreffen, und das Abkommen könnte das Problem der Arbeitslosigkeit und Ungleichheit in Tunesien verschärfen.

Der ALECA-Prozess läuft

Neoliberale Reformen werden bereits durch die Schuldenpläne des IWF und der Europäischen Union durchgesetzt: Unabhängigkeit der tunesischen Zentralbank, ein für multinationale Unternehmen günstiger Investitionskodex, niedrigere Subventionen, das Gesetz über gesundheitliche und pflanzenschutzrechtliche Normen usw.

Daher ist es unerlässlich, gegen ALECA zu mobilisieren, denn es handelt sich um eine Fortführung der europäischen und französischen neokolonialen Politik.

Darüber hinaus soll das gleiche Projekt allen Mittelmeerländern vorgeschlagen werden: Marokko, das erste Land, mit dem die EU Verhandlungen aufgenommen hat, unterbrach sie 2014 auf Druck der marokkanischen Zivilgesellschaft, um eine Folgenabschätzungstudie durchzuführen; die EU befindet sich auch in der Diskussionsphase vor den Verhandlungen mit Jordanien und Ägypten.

ALECA zu blockieren bedeutet, dem freien Handel und dem imperialistischen Projekt Europas in der gesamten Region entgegenzuwirken.

Wir fordern

• Stopp der Verhandlungen zwischen der EU und Tunesien über ALECA
• Achtung der Souveränität Tunesiens
• Beendigung der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Tunesiens und der Steuerprivilegien für europäische Unternehmen.
• Die Annullierung der verabscheuungswürdigen Schulden, die der tunesische Staat mit der EU ohne Zustimmung des tunesischen Volkes eingegangen ist.
• Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für alle

---

Erstunterzeichner*innen:

Frankreich : Association Survie / Les Amis du Monde Diplomatique / Confédération paysanne / Aitec-IPAM / ATTAC France / Les Amis de la Terre

Italien: Fairwatch / Stop TTIP CETA Italia Campaign

Belgien: Comité pour l’abolition des dettes illégitimes (CADTM) / Corporate Europe Observatory (CEO) / Entraide et fraternité

Irland: KEEP IRELAND FRACKING FREE / FÍS NUA

Spanien: ATTAC Spain

Österreich: Anders Handeln, ATTAC Austria

noaleca.home.blog/2019/04/07/appel-contre-laleca-entre-leurope-et-la-tunisie


Übersetzung: Redaktion von "Sand im Getriebe" www.attac.de/bildungsangebot/sig

---

---

* Dank der Unabhängigkeit vom 20. März 1956 erhielt Tunesien seine enteigneten Agrarflächen zurück. Aber die europäischen Siedler blieben auf großen Ländereien und am 12. Mai 1964 verkündete Präsident Bourguiba das so genannte Gesetz über die "landwirtschaftliche Evakuierung", das Ausländern den Besitz von Agrarland verbot.

Unter Ben Alis Diktatur wurde der zurück erhaltene staatliche Grundbesitz manchmal Verwandten des Regimes übergeben, und unter dem Druck des IWF wurden manche Flächen privatisiert.

Während der revolutionären Bewegung im Winter 2010-2011 wollte die Bevölkerung ihren Nationalreichtum, einschließlich der landwirtschaftlichen Nutzfläche, zurückgewinnen. Aber die Dynamik von Bodenkonzentration, Export und landwirtschaftlicher Intensivierung zum Nachteil der Bauernschaft, die die Ernährungssouveränität sicherstellt, konnte nicht angefochten werden.

Gerechter Welthandel