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Neue Studie: Lobbygefahr bei deutscher EU-Ratspräsidentschaft

57 Organisationen fordern mehr Lobbytransparenz auf nationaler und EU-Ebene

Köln/Brüssel/Wien 23.06.2020 - Eine heute veröffentlichte Studie der lobbykritischen Organisationen LobbyControl und Corporate Europe Observatory (CEO) zeigt: Der Rat der EU, das Gremium der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, ist ein Einfallstor für die Lobbyinteressen von Unternehmen.

Sechs Nichtregierungsorganisationen* schildern anlässlich der deutschen Ratspräsidentschaft, wo die deutsche Bundesregierung in den vergangenen Jahren im Rat Positionen zugunsten ihrer heimischen Industrie vertreten hat – häufig auf Kosten des Gemeinwohls. Zugleich fordern 57 europäische Organisationen – darunter auch Attac Österreich – in einem offenen Brief an die deutsche Bundeskanzlerin Merkel ein Ende von geheimen Treffen mit mächtigen Lobbygruppen, mehr Transparenz auf EU- wie auf nationaler Ebene sowie mehr Mitwirkungsrechte für die Bürger*innen bei der EU-Politik.**

In den vergangenen Jahren hat die deutsche Bundesregierung im Rat unter anderem Steuertransparenz blockiert und Schlupflöcher bei den CO2-Grenzwerten für die Autoindustrie geschaffen, damit sie weiter große SUVs mit Verbrennungsmotor produzieren kann. Sie hat zudem eine Digitalsteuer auf europäischer Ebene verhindert und der Gasindustrie dazu verholfen, dass sie als Übergangstechnologie sogar in den EU-Kriterienkatalog für nachhaltige Investitionen aufgenommen wurde. Es besteht die Gefahr, dass die deutsche Bundesregierung auch während der Ratspräsidentschaft ein allzu offenes Ohr für die Belange von Unternehmen hat.

Exklusivrunden mit der Autoindustrie

„Die Studie zeigt, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Interesse ihrer eigenen Industrie kein Treiber einer engagierten EU-Klimapolitik werden dürfte. Mit Vorliebe verhandelt sie in intransparenten Exklusivrunden mit der Autoindustrie über CO2-Reduktionsziele, oder berät mit der Gasindustrie ihre zukünftige Bedeutung bei der Energiewende. So hat Deutschland seit 1990 keinerlei Fortschritte bei der Senkung des CO2-Ausstoßes im Straßenverkehr gemacht und Investitionen in Gas wurden auf ihr Betreiben in die Liste nachhaltiger Investitionen der EU aufgenommen.

Rat der EU arbeitet im stillen Kämmerlein

Die einseitige Zusammenarbeit mit heimischen Unternehmen wird den nationalen Regierungen auch dadurch leicht gemacht, dass die Arbeit des Rats der EU ganz überwiegend im stillen Kämmerlein stattfindet. Auch wenn die deutsche Bundesregierung ihre Ratspositionen erarbeitet, bekommt die Öffentlichkeit davon normalerweise nichts mit. Während es Großunternehmen und ihren Verbänden mit den entsprechenden Ressourcen und Netzwerken gelingt, sich Gehör zu verschaffen, wird die Zivilgesellschaft meist vor vollendete Tatsachen gestellt", erklärt Nina Katzemich, Campaignerin bei LobbyControl.

Mehr Transparenz nötig

„Im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft muss Deutschland sich für mehr Transparenz in der Ratsarbeit und eine Teilnahme des Rates am EU-Transparenzregister einsetzen. Ebenso braucht es aber auf Ebene der Mitgliedstaaten mehr Transparenz. Wir fordern für Deutschland ein verpflichtendes Lobbyregister für Bundestag und Bundesregierung, eine legislative Fußspur sowie die Veröffentlichung von Lobbytreffen der Minister*innen und hohen Beamten. Gerade durch die Veröffentlichung von Treffen würden exklusive Klüngelrunden offensichtlich", so Katzemich weiter.

Corona-Krise wird Lobbying der Konzerne verschärfen

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise und der laufenden Verhandlungen über Hilfs- und Wiederaufbauprogramme wird der Lobbyansturm der kommenden Monate enorm sein. Zahlreiche Interessengruppen werden außerdem unter dem Stichwort „Corona-Lobbying“ versuchen, Vorschriften und Regelungen im Namen einer vermeintlich schnelleren Erholung der Wirtschaft aufzuweichen und damit eine Krise gegen die andere auszuspielen.

Vicky Cann, Corporate Europe Observatory, erklärt: „Die deutsche Bundesregierung darf jetzt nicht nach dem Prinzip „business-as-usual“ Steuersündern oder Klimasündern bedingungslos unter die Arme greifen. Es muss Schluss sein mit privilegierten Zugängen großer Konzerne. Wir brauchen offene, transparente und ausgewogene Debatten. Dabei gilt es viele Stimmen anzuhören, gesellschaftliche Anliegen gegeneinander abzuwägen und im Sinne des Gemeinwohls zu handeln.“


* BUND, Netzwerk Steuergerechtigkeit, DUH, Bürgerbewegung Finanzwende, Coordination gegen Bayer-Gefahren, Our Fish

** Die Forderungen:

1. Die EU-Ratspräsidentschaft darf Konzerninteressen nicht über das öffentliche Interesse stellen. Es muss Schluss sein mit privilegierten Zugängen großer Konzerne und einseitigen Klüngelrunden mit mächtigen Lobbygruppen.

2. Im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft muss Deutschland sich für eine Reform der EU-Gesetzgebungsverfahren einsetzen, insbesondere mit Blick auf mehr Transparenz in der Ratsarbeit. Die Bürger*innen müssen Gesetzesinitiativen von ihrer Entstehung an verfolgen können und über die Position, die ihre Regierung dazu einnimmt, informiert werden.

3. Deutschland muss als gutes Beispiel vorangehen und für vollständige Lobbytransparenzsorgen. Dazu gehören: die Veröffentlichung aller Treffen zwischen Regierungsmitgliedern und Lobbyist*innen, ein „legislativer Fußabdruck“ und ein umfassendes Lobbyregister. Deutschland sollte auf jegliches Sponsoring seiner Ratspräsidentschaft durch Unternehmen verzichten.

4. EU-Bürger*innen sollten das Recht haben, sowohl über Entscheidungen ihrer Regierung in EU-Angelegenheiten informiert zu werden als auch selbst ihre Meinung dazu abzugeben. Die Bürger*innen dürfen nicht länger aus diesem Prozess ausgeschlossen werden.

 


Hintergrund: Einige hier erwähnte Studien in Kürze:

Automobilindustrie:

Seit die Europäische Union verbindliche Ziele zur Reduzierung der CO2-Emissionen bei PKW festgelegt hat, kämpfen die Autohersteller dagegen an. Die deutsche Bundesregierung unterstützt die deutsche Automobilindustrie regelmäßig dabei, den Klimawandel weiter zu ignorieren und stattdessen auf immer größere SUVs und Limousinen mit Verbrennungsmotoren zu setzen. Seit 1990 hat Deutschland keinerlei Fortschritte bei der Senkung des CO2-Ausstoßes im Straßenverkehr gemacht. Was durch zunehmende Effizienz gewonnen wurde, wurde prompt durch den steigenden Bedarf wieder wettgemach.t Daran hat sich auch trotz Diesel-Abgasskandal nichts geändert, was zu der absurden Situation geführt hat, dass auch heute noch große, umweltschädliche Spritfresser bei der Berechnung der Emissionen zum Vorteil der Autohersteller wirken. Während der europäische Grüne Deal nun dieses Modell gefährden könnte, nutzt die Automobilbranche die Corona-Krise als Vorwand, um weitere Veränderungen abzuwenden

Gasindustrie:

Die deutsche Bundesregierung, allen voran das einflussreiche Ministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), hat sich in der EU zu einer der größten Befürworter*innen einer intensiveren Nutzung von Erdgas und der dazugehörigen Infrastruktur entwickelt. Dies zeigt sich z.B. an der Unterstützung der umstrittenen Pipeline Nordstream 2, aber auch daran, dass Deutschland erfolgreich dafür gekämpft hat, Gas in die so genannte grüne Taxonomie der EU aufzunehmen, in der festgelegt wird, welche Investitionen als grün und mit den UN-Klimavereinbarungen vereinbar einzustufen sind.

In den kommenden Monaten wird sich die Europäische Union mit zahlreichen energiepolitischen Vorhaben befassen. Eine davon dürfte das Thema Wasserstoff werden. Die kürzlich festgelegte nationale Wasserstoffstrategie lässt befürchten, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die Maßnahmen zum Klimawandel unterminiert, indem sie Wasserstoff als sauberen und kohlenstoffneutralen Kraftstoff auf EU-Ebene irreführend fördert.

Steuern:

Viele multinationale, darunter auch deutsche Konzerne verschieben ihre Gewinne in Steuersümpfe, und wehren sich entsprechend gegen eine transparentere Finanzberichterstattung. Durch Steuervermeidung und -optimierung entgehen den EU-Ländern jedes Jahr 50 – 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Mit Unterstützung der Bundesregierung ist es Unternehmen und ihren Verbänden gelungen, öffentliche Steuertransparenz in der EU zu blockieren. Im Fall der Digitalsteuer für Internetgiganten wie Google und Facebook hatte die Bundesregierung eine europäische Lösung blockiert und auf eine globale Steuer mit der OECD verwiesen. Diese ist nun gescheitert. Gerade jetzt, wo die öffentlichen Haushalte aufgrund der Corona-Pandemie massiv unter Druck geraten, wäre ein guter Zeitpunkt, um Steuertransparenz durchzusetzen und gegen Steuervermeidung vorzugehen.

Zum Weiterlesen:


Pressekontakt

Nina Katzemich, EU-Referentin LobbyControl
Telefon: +49 (0)179/509 30 22
nina.katzemichATTAC@lobbycontrol.de

Vicky Cann, Corporate Europe Observatory
Telefon: +44 (0)7960 98809
vickyATTAC@corporateeurope.org

Autor*innen der einzelnen Beiträge

Autoindustrie: Arne Fellerman, BUND: Arne.FellermannATTAC@bund.net

Gasindustrie: Constantin Zerger, Deutsche Umwelthilfe: zergerATTAC@duh.de or +49 160 433 40 14

Finanzindustrie: Marcus Wolf, Finanzwende: marcus.wolfATTAC@finanzwende.de or +49 177 377 09 55

Steuertransparenz: Christoph Trautvetter: christoph.trautvetterATTAC@netzwerk-steuergerechtigkeit.de or +49 176 7867 5480

Chemieindustrie: Jan Pehrke, Coordination gegen BAYER-Gefahren: pehrkeATTAC@gmx.de or +49 211 305 849 Glyphosate: BUND, presseATTAC@bund.net

Fischerei: Dave Walsh, Our Fish: daveATTAC@our.fish or +34 691 826 764

Digitalsteuer, ePrivacy, Pharmabranche: Vicky Cann, Corporate Europe Observatory: vickyATTAC@corporateeurope.org, +44 7960 988096

Transparenz im Rat und der EU: Nina Katzemich, LobbyControl: nina.katzemichATTAC@lobbycontrol.de, +49 179 509 3022