Infolge des Ukraine-Krieges sind die Preise für Weizen zwischen Jänner und März 2022 um 61 Prozent gestiegen. Für Millionen Menschen in den ärmsten Ländern ist dies eine existentielle Bedrohung: Die Weltbank schätzt, dass jeder Anstieg der Lebensmittelpreise um einen Prozentpunkt 10 Millionen Menschen weltweit in extreme Armut stürzt.
Das Ausmaß des Preisanstiegs lässt sich jedoch nicht durch eine grundsätzliche Nahrungsmittelknappheit erklären. (1) Der aktuelle Report „Another Perfect Storm?“ des internationalen Expert*innengremiums für nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES-Food) und weiteren Quellen zeichnen nach, wie Finanzspekulation auch aktuell für steigende Lebensmittelpreise sorgt und so Millionen Menschen in den Hunger treibt. Zusätzlich ist die wachsende Marktmacht der vier globalen Konzerngiganten im Agrarrohstoffhandel, die den Großteil des Welthandelsvolumens an Agrarrohstoffen kontrollieren, ein unterschätztes und bisher viel zu wenig untersuchtes Risiko für die globale Ernährungssicherheit.
Für das globalisierungskritische Netzwerk Attac und die ÖBV-Via Campesina Austria zeigt dies, dass die - nach der Finanzkrise 2008 versprochene - Regulierung zur Eindämmung von Rohstoffspekulation "erfolgreich" von Finanzlobbys torpediert wurde. (2) Attac und die ÖBV warnen vor einer neuen Welle der Spekulation mit Millionen zusätzlichen Hungernden. Sie fordern, die Finanz- und Weltmärkte (Futures-Märkte, Rohstofffonds und die Rohstoffgiganten) genau zu überwachen und Spekulation, welche die Ernährungssicherheit gefährdet, zu bekämpfen. (3) Die Bekämpfung des Hungers muss kompromisslos Vorrang vor Profitinteressen haben.
Enorme Geldflüsse in US-Rohstofffonds und Terminkontrakte
Der IPES-Food-Report dokumentiert, dass Finanzmarktakteure infolge des Ukraine-Krieges enorme Geldflüsse in börsennotierte Rohstofffonds leiten, die in Weizen, sowie in Weizen-Terminkontrakte (Futures) investieren. Große institutionelle Anleger treiben so die Preise hoch.
Laut dem Agricultural Market Information System (AMIS) vom April 2022 flossen in der ersten Märzwoche 2022 4,5 Milliarden Dollar in rohstoffgebundene "Exchange Traded Funds" (ETFs) – so viel wie sonst in einem Monat. Bis zum 11. April flossen allein in die US-Agrarfonds von Invesco und Teucrium 1,2 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 waren es insgesamt 197 Millionen Dollar. (Quelle: Lighthouse Reports).
Das tägliche Handelsvolumen des Weizenfonds von Teucrium stieg von Januar bis Anfang März auf das Hundertfache und lag auch im März und April etwa zehnmal so hoch wie vor Ausbruch des Krieges.
Unmittelbar nach der Invasion in die Ukraine stürzten sich die Anleger auch auf Weizen- und Mais-Terminkontrakte (Futures), insbesondere für die Lieferung im Mai. Innerhalb von nur neun Tagen stieg der Weizenpreis an den Terminmärkten um 54 Prozent und ging dann fast ebenso schnell wieder zurück, blieb aber auf einem hohen Niveau. Die US-Aufsichtsbehörde für den Handel mit Warentermingeschäften (CFTC) stellte fest, dass die Volatilität seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine 20 Prozent über dem Normalwert lag. Ein Communique der G7-Agrarminister vom 11. März stellte „artificially inflated prices“ und „speculative behaviour“ fest.
Spekulation auch an der Pariser Weizenbörse
Ähnlich ist die Lage an der Weizenbörse in Paris, wo Weizen-Terminkontrakte im März ein Rekordniveau erreichten. Laut der indischen Nachrichtenseite The Wire stieg der Preis für Pariser Mahlweizen zwischen 23. Februar und 7. März um 38 Prozent - von 287 Euro auf 396,5 Euro pro Tonne. Im gleichen Zeitraum erhöhten die Investmentfonds ihre Kaufkontrakte („long-only“) um 43 Prozent. Damit sorgten sie für eine künstliche Nachfrage, die wiederum die tatsächlichen Preise für die Rohstoffe steigen ließ. Am 27. April erreichte der Kurs einen Höchststand von 418 Euro.
Laut Lighthouse Reports waren im April 2022 sieben von zehn Käufern von Weizen-Futures-Kontrakten Spekulanten in Form von Investmentfirmen, Investmentfonds und kommerziellen Nicht-Hedgern. Ihr Ziel: Vom Preisanstieg profitieren – auf Kosten der Hungernden.
Mit Angebot und Nachfrage nicht erklärbar
Aufgrund der - durch mangelnde Regulierung verursachte - Intransparenz auf den Märkten ist das exakte Ausmaß der Preissteigerungen durch Spekulation schwer zu beziffern. Die aktuellen Entwicklungen lassen sich dem IPES-Food-Bericht zufolge mit realem Angebot und Nachfrage nicht erklären. Und obwohl die Getreideproduktion in den vergangenen 15 Jahren relativ konstant war, waren die Lebensmittel- und Agrarrohstoffpreise stets extrem volatil und auch spekulationsgetrieben:
Auch „physische“ Rohstoffhändler spekulieren auf steigende Preise
Der IPES-Food Bericht nennt zusätzlich zur „klassischen“ Finanzspekulation noch ein weiteres Problem: Die Markmacht und Spekulation der vier großen „physischen“ Rohstoffhändler: Archer-Daniels Midland, Bunge, Cargill, Dreyfus („ABCD“). Sie kontrollieren 70 bis 90 Prozent des globalen Getreidehandels, sind aber nicht verpflichtet, ihre Getreidebestände offenzulegen. Je mehr die Spekulation zunimmt, umso mehr haben sie ein Interesse daran, ihre Lagerbestände zurückzuhalten, bis die Preise noch weiter steigen. Ihre Marktmacht wird somit zu einem immer größeren Risiko für die Welternährung. Auch die immer größer werdenden Konzerngiganten im Bereich Saatgut und Agrarchemie, bei Düngemitteln, Landmaschinen, sowie in Handel und Lebensmittelverarbeitung verursachen immer gravierendere Probleme, kritisieren Attac und die ÖBV.
Anmerkungen
(1) Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die FAO, schätzte am 8. April laut The Wire, dass das Verhältnis zwischen Beständen und Verbrauch im Zeitraum 2021-2022 von 2,78 Milliarden Tonnen im Zeitraum 2020-2021 auf 2,8 Milliarden Tonnen im Zeitraum 2021-2022 steigen wird. Die geschätzte Weizenproduktion soll für den Zeitraum 2021-2022 nur marginal sinken (von 776,6 Millionen Tonnen auf 776,5 Millionen Tonnen.)
(2) Nach der Finanzkrise 2008 wurden in den USA und der EU Regeln zur Eindämmung von Rohstoffspekulation verabschiedet. Diese wurden jedoch von der Finanzlobby erfolgreich abgeschwächt oder verhindert: In den USA reichte die International Swaps and Derivatives Association (ISDA), eine Lobbygruppe, zu deren Mitgliedern Goldman Sachs, die Bank of America und die Deutsche Bank gehören, eine erfolgreiche Klage gegen das Dodd-Frank-Gesetz ein. Dieses sah Limits für Kontrakte vor, die von einzelnen Händlern und Händlerkategorien, wie z. B. Indexspekulanten, gehalten werden können. Die ISDA und ihre Mitglieder Goldman Sachs, BNP Paribas und Citi Group konnten auch in der EU erfolgreich ähnliche - von der europäischen Aufsichtsbehörde ESMA ausgearbeitete - Positionslimits abschwächen.
(3) Die Forderungen im Detail:
- Soforthilfe für betroffene Staaten:
Sofortige Finanz- und Nahrungsmittelhilfen soweit Schuldenerlass für betroffene Staaten. Aufbau und Stärkung von regionalen und öffentlichen Getreidereserven und einer multilateralen Institution zur Bekämpfung der Agrar- und Ernährungskrise.
- Transparenz, Überwachung und effektive Maßnahmen:
Verpflichtende Markttransparenz (Preise, Mengen, Vorräte, Nutzung) und Überwachung (Berichtspflichten, sanktionsbewehrte Mechanismen). Das Committee on World Food Security (CFS) muss das Volumen der Terminkontrakte an den einschlägigen Börsen, die Kapitalflüsse in Land, landwirtschaftliche Betriebsmittel (Saatgut, Düngemittel, Pestizide) und die landwirtschaftliche Produktion sowie die öffentlichen Nahrungsmittelvorräte überwachen.
- Rohstoffspekulation bekämpfen:
Die Positionslimits bei essentiellen Agrarrohstoffen müssen heruntergesetzt werden um effektiv wirksam zu sein. Der Verkauf von Agrarrohstoff-Exchange Traded Fund (ETFs) und Commodity Index Funds (CIFs) muss in Zeiten steigender Nahrungsmittelpreise und Nahrungsmittelspekulation verboten werden. Umsetzung einer Steuer auf Commodity-Index-Fonds und andere Formen des Derivat-Handels aufbauend auf Ansätzen der Finanztransaktionssteuer sowie eine Besteuerung von windfall profits.