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Studie: EU-Kürzungspolitik verletzt Menschenrecht auf Nahrung in Griechenland

Fast 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung sind von Armut bedroht

Brüssel, Wien. 20. November 2018. Eine neue Studie dokumentiert die katastrophalen Auswirkungen europäischen Kürzungspolitik auf die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit in Griechenland. Die Staaten der Eurozone haben dabei durch ihre Auflagen an Griechenland ihre internationalen Verpflichtungen für das Menschenrecht auf Nahrung verletzt. Fast 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung in Griechenland sind von Armut bedroht, die Ernährungsunsicherheit hat sich im ganzen Land verdoppelt. Die Studie „Democracy Not For Sale: The Struggle for Food Sovereignty in the Age of Austerity in Greece“ wird heute vom Transnational Institute, FIAN International und Agroecopolis präsentiert.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

•    38,9 Prozent der ländlichen Bevölkerung in Griechenland sind von Armut bedroht.
•    Etwa 40 Prozent der griechischen Kinder sind von materieller Armut und sozialem Abstieg betroffen.
•    Die Arbeitslosigkeit im ländlichen Raum ist zwischen 2008 und 2013 von 7 auf 25 Prozent gestiegen. Gleichzeitig sank dort das Pro-Kopf-Einkommen um 23,5 Prozent.
•    Der Anteil der Haushalte, die sich nicht jeden zweiten Tag Mahlzeiten mit Fleisch, Huhn, Fisch (oder vegetarischem Äquivalent) leisten können, hat sich während der Krise von etwa 7 Prozent im Jahr 2008 auf mehr als 14 Prozent im Jahr 2016 verdoppelt. Trotz des enomen Rückgangs der Einkommen stiegen die Lebensmittelpreise in der Krise schneller als in der Eurozone.

Neoliberale Reformen schaden KleinerzeugerInnen

Im Nahrungsmittelsektor haben eine Reihe von neoliberalen Reformen große Handelsketten gestärkt, wohingegen sich die Lage für KleinerzeugerInnen erheblich verschlechtert hat. Zu diesen Reformen gehörten unter anderem:

•    Die Liberalisierung des Einzelhandels, beispielsweise die Aufhebung bestimmter Warenbeschränkungen für den Verkauf in Supermärkten, die Deregulierung des Arbeitsrechts und die Öffnung von Geschäften an Sonntagen.
•    Die Liberalisierung des Großhandels, insbesondere die Privatisierung der ehemals öffentlich verwalteten und profitablen Central Markets and Fishery Organisation, dem wichtigsten Lebensmittelgroßhändler des Landes, der für die beiden wichtigsten Lebensmittelmärkte und elf Fischmärkte des Landes verantwortlich ist.
•    Privatisierungen, einschließlich der Privatisierungen der Agricultural Bank of Greece (ATE) und der Milchgenossenschaft AGNO. Die Folge für Landwirte sind höhere Kosten und weniger Zugang zu Krediten, Finanzdienstleistungen und agronomischer Beratung.
•    Die Abschaffung der spezialisierten landwirtschaftlichen Versicherungsorganisation (OGA) hatte für viele Landwirte höhere Beiträge zur Folge.

Eurozonen-Staaten verletzen UN-Sozialpakt

„Indem die Mitgliedstaaten der Eurozone Griechenland diese Politik aufgezwungen haben, haben sie ihre internationalen Verpflichtungen zur Achtung des Menschenrechts auf Nahrung verletzt. Dazu gehören der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) und andere internationale Menschenrechtsinstrumente", kritisiert Brigitte Reisenberger von FIAN Österreich. Das Recht auf angemessene Ernährung gilt als verletzt, wenn durch dauerhaften Entzug von Nahrung oder Ernährungsgrundlagen die Würde des Menschen verletzt ist.

Olivier de Schutter, von 2008 bis 2014 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Mitglied des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, kommentierte den Bericht wie folgt: "Es wird uns gesagt, Griechenland sei jetzt außer Gefahr. Aber die Auswirkungen auf den Lebensstandard griechischer Familien und insbesondere auf das Recht auf Nahrung waren enorm. Und es ist wichtig, dass wir Lehren daraus ziehen."

"Unfassbares Leid in Kauf genommen"

„Auch diese aktuelle Studie zeigt, dass das Ziel der europäischen Krisenpolitik nicht die Sanierung des griechischen Staatshaushaltes war. Es ging um die Umgestaltung der griechischen Wirtschaft im Interesse von Konzernen. Dafür wurde unfassbares menschliches Leid in Kauf genommen“, kommentiert Lisa Mittendrein von Attac Österreich. Das europäische Kreditprogramm für Griechenland endete im August 2018. Doch für Attac Österreich ist das kein Grund zur Freude. Denn der Zwang zu immer weiterer Verarmungspolitik werde noch für Jahrzehnte weitergehen. Die Troika wird weiterhin alle drei Monate in Athen die Einhaltung der Kürzungspolitik prüfen. (1)

Solidarische Landwirtschaft als Hoffnung

Doch es gibt auch Hoffnung in Griechenland: Als Folge der EU-Kürzungspolitik sind zahlreiche Gemeinschaftsinitiativen entstanden, die versuchen den Zugang zu Nahrungsmitteln zu sichern. Dazu gehören Solidaritätsküchen, Lebensmittelgenossenschaften, "Märkte ohne Mittelsmann", Kollektive und Netzwerke zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln, von der Gemeinschaft unterstützte Landwirtschaftsprogramme (CSA) sowie eine Reihe anderer landwirtschaftlicher Genossenschaften, alternative Betriebsmodelle und Produzentenprojekte. Diese Soziale Solidarwirtschaft ist in den Krisenjahren massiv gewachsen: 2013 wurden 372 Sozialunternehmen registriert, in den Jahren 2014, 2015 und 2016 waren es 585, 714 bzw. 907. „Diese Projekte sind nicht nur ein Mittel des Widerstands gegen die Kürzungspolitik, sondern zeigen auch grundlegende Alternativen auch für ein neues, transformatives, gerechtes Ernährungssystem“, erklärt Julianna Fehlinger von der ÖBV-Via Campesina Austria.  Die Studie kritisiert auch die Gemeinsame Europäische Agrarpolitk (GAP), die bereits seit Jahrzehnten die Ernährungssouveränität in Griechenland schwächt und das Land zu einem Netto-Nahrungsmittelimporteur gemacht hat.

Die Studie basiert auf Feldforschungen und Interviews mit über 100 Schlüsselakteuren an 26 Orten in ganz Griechenland, sowie auf makroökonomischen statistischen Analysen und Literaturrecherchen. Sie beleuchtet einen bisher kaum thematisierten Aspekt der griechischen Krise, da ländlichen Sektoren und Regionen oft die Stimme in der nationalen wie internationalen Politik fehlt.

Englischsprachige Lang und Kurzfassung: https://www.tni.org/en/democracy-not-for-sale

Rückfragen:

Brigitte Reisenberger, FIAN Österreich
Tel: 01 - 2350239-13, brigitte.reisenbergerATTAC@fian.at

David Walch, Pressesprecher Attac Österreich
Tel: +43 (0) 650 544 00 10, presseATTAC@attac.at

Franziskus Forster, Referent für Öffentlichkeitsarbeit,  ÖBV-Via Campesina Austria
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Alex del Rey, FIAN International delreyATTAC@fian.org +4917622219314

(1) Details siehe: www.attac.at/news/details/das-griechenland-programm-endet-die-verarmungspolitik-geht-weiter