Bericht Fieldtrip Tschechien

Wie weiter nach der Kohle? – Eine Reise durch Nordböhmen zwischen Strukturwandel und sozialem Engagement

Vom Hausprojekt in Děčín über das Community Centre in Janov bis zum Widerstandsort Horní Jiřetín – auf unserem Fieldtrip durch Nordböhmen begegneten wir einer Region im Umbruch. Zwischen stillgelegten Tagebauen, verlassenen Siedlungen und ehrgeizigen Zukunftsplänen zeigten uns engagierte Menschen, wie sie dem strukturellen Wandel mit Solidarität, Kreativität und Beharrlichkeit begegnen. Eine Exkursion, kofinanziert von der Europäischen Union.

Am 11. Juli mittags ging es vom Wiener Hauptbahnhof los nach Děčín, Tschechien. Sechs Stunden später kamen wir an. Mikuláš von Re-set holte uns vom Bahnhof ab und begleitete uns zur Villa Diana – einem Hausprojekt, in dem er und Katerina, Anna und noch einige andere Menschen wohnen. Das Kollektiv hat die schöne Jugendstil-Villa mithilfe von Crowdfunding vor drei Jahren gekauft und seitdem renoviert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Villa ist auch Ausgangspunkt für die Energiegemeinschaft, die Re-set im Ort gründen will – und diese Energiegemeinschaft wiederum war der Startpunkt unserer Erasmus-Zusammenarbeit.

Nach einem leckeren Abendessen und einer kurzen Vorstellung des Hauses und des Projekts kam noch ein Mitglied der Energiegemeinschaft dazu, der ursprünglich aus der Nähe von Děčín stammt. Er erzählte uns viel über die Geschichte und Entwicklung der Region: Welche Teile der Stadt sich wie verändert haben, warum auch hier – so wie in ganz Tschechien – die Immobilienpreise stark steigen, und weshalb gerade die Kohleindustrie eine so große Rolle spielt. Für ihn ist es wichtig, nachhaltige Alternativen zur fossilen Wirtschaft aufzubauen – und zwar unabhängig von großen Konzernen.

Am nächsten Tag ging es früh los: Mit dem Zug fuhren wir nach Janov–Litvínov, zum Community Centre „Libuše“ des Vereins MY Litvínov. Petr Globoschink, ein Sozialarbeiter und Klimaaktivist, kennt das Viertel gut und nimmt uns mit zu einem Rundgang.

Petr erklärt, dass die Siedlung ursprünglich für Arbeiter*innen der Chemiefabrik und des Kohleabbaus gebaut wurde und heute vorwiegend von Roma bewohnt wird. Das Viertel sei von der Politik vernachlässigt worden, sagt er. Die Millionenbeträge, die von der EU über Just-Transition-Projekte in die Region fließen, kämen bei den Menschen vor Ort nicht an.

Deshalb haben er und andere Aktivist*innen begonnen, ein soziales Zentrum aufzubauen, das Sozialarbeit auf Augenhöhe ermöglichen soll – so ist „Libuše“ entstanden.

Das Projekt Libuše 2024 will die Lebensbedingungen im nordböhmischen Stadtteil Janov nachhaltig verbessern – mit besonderem Fokus auf die Roma-Gemeinschaft. Ziel ist es, die Menschen vor Ort, insbesondere die Roma, stärker in die Lösung lokaler Probleme einzubinden, ihre gesellschaftliche Teilhabe zu stärken und nachbarschaftliche Beziehungen zu fördern. Eine regionale Roma-Plattform soll als Stimme und Interessenvertretung dienensowie Schulungen, gemeinsame Aktivitäten und eine lokale Kerngruppe fördern. Mit dem Nachbarschaftshaus „Libuše“ entsteht ein Raum für Begegnung, Freizeit und gemeinschaftliches Engagement. Das Projekt vernetzt verschiedene Roma- und Pro-Roma-Organisationen, arbeitet eng mit der Stadt Litvínov zusammen und will auch das öffentliche Bild der Roma in Tschechien verändern.

Einer der größten Erfolge, sagt Petr, ist – neben dem Umbau des Hauses und dem wunderschönen Garten –das Ghetto-Festival, das die Community einmal jährlich veranstaltet und das hunderte Menschen anlockt. Darüber hinaus setzt er sich dafür ein, dass verlassene Häuser in der Siedlung abgerissen und neue Begegnungsorte im öffentlichen Raum geschaffen werden. Der politische Prozess sei zäh, Erfolge gäbe es nur in kleinen „Babyschritten“. Nach sieben Jahren aktiver Arbeit blickt er auf vier konkrete Fortschritte zurück – entmutigt ist er trotzdem nicht. Er macht weiter.

Das Thema des Nichtaufgebens begleitet uns auch am Nachmittag. Wir verabschieden uns von Petr und fahren weiter nach Horní Jiřetín – einem Ort des Kohlewiderstands. Die Gemeinde sollte ursprünglich dem Tagebau weichen, doch die Menschen stellten sich dagegen. Durch jahrelangen Protest und Selbstorganisierung konnte die Zerstörung verhindert werden.

Mikuláš, der zu dem Thema seine Dissertation geschrieben hat, erklärt uns, wie hart der Kampf war – und wie es jetzt, da der Kohleabbau eingestellt werden soll, neue Diskussionen darüber gibt, was mit dem Tagebau und den Arbeitsplätzen geschehen soll. Wir stehen am Rand der Kohlegrube und können kaum glauben, wie riesig sie ist. In dem Moment fliegt ein Raubvogel mit Beute im Schnabel an uns vorbei – und wir fragen uns, wie lange es wohl dauert, bis sich die Natur dieses von der Industrie zerstörte Gebiet wieder zurückerobert.

Die Gemeinde hat inzwischen eine eigene, nachhaltige Energieversorgung aufgebaut. Sogar eigene Leitungen wurden verlegt, um lokal produzierten Solarstrom zu teilen. So fließt der Strom direkt in die Haushalte – und ermöglicht eine demokratischere und unabhängigere Energieversorgung.

Zwar wird viel Geld in die Region investiert (z.B. über den Just Transition Fonds der EU); in Horní Jiřetín fließen diese Mittel allerdings vor allem an den ehemaligen Kohlekonzern – der soll den Umbau organisieren. Doch wie Petr und Mikuláš betonen: Von den versprochenen Projekten ist bislang kaum etwas sichtbar. Wo genau das Geld landet, bleibt für viele im Ort unklar.

Diese Eindrücke wirken noch nach, als wir mit der Straßenbahn durch eine riesige Chemie-Raffinerie fahren, die Plastik produziert. Sie überragt alles, was wir bis dahin an Industrieanlagen gesehen hatten – selbst der OMV-Standort bei Schwechat wirkt im Vergleich klein. Unsere letzte Station an diesem Tag ist Most.

Auch Most blieb von der Zerstörung durch den Kohleabbau nicht verschont: Schon in den 1960er und 70er Jahren wurde die mittelalterliche Stadt abgerissen und umgesiedelt. Nur die gotische Kirche blieb erhalten – sie wurde damals spektakulär auf Schienen versetzt, um als Kulturerbe bewahrt zu werden. Ungläubig betrachten wir die Fotos vom Transport – und von den Filmsets, in denen die Ruinen später auftauchten, unter anderem bei „Im Westen nichts Neues“.

Wir steigen auf den Kirchturm und blicken über die Landschaft: den heutigen Moster See, der die geflutete Kohlegrube füllt, die einst die Altstadt verschlang. Über 20 Jahre lang wurde hier Wasser eingelassen – jetzt ist der See ein Ausflugsziel. Wir sind beeindruckt, wie sehr sich die Landschaft verändert hat. Most zeigt, wie stark die Region vom Energiesektor geprägt wurde – und noch immer wird.

Am Abend sitzen wir mit Katerina, Anna und Mikuláš zusammen. Wir sprechen über all das, was wir gesehen und gehört haben. Anna zeigt uns ein Video einer Künstlerin, das das historische Nordböhmen neben dem heutigen zeigt: damals eine aristokratische Kurregion mit Thermalbädern – und heute eine Kohleregion, in der künftig Lithium abgebaut und Wasserstoff produziert werden soll. Ob die Bevölkerung dabei mitreden darf, bleibt offen. Die Projekte, die wir kennengelernt haben, machen Hoffnung – aber der Weg in eine wirklich demokratische Energiezukunft ist noch ungewiss.

Doch die Begegnungen mit Petr, Mikuláš, Katerina und Anna zeigen uns auch: Es mangelt der Region nicht an Menschen, die mutig, kreativ und engagiert an einer besseren Zukunft arbeiten.