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Der Ukraine-Überfall als Tarnkappe

Lobbies versuchen Interessen durchzusetzen, die vorher auf Widerstände gestoßen waren.

von Kurt Bayer

Der russische Überfall auf die Ukraine hat eine „Zeitenwende“ ausgelöst. Vieles wird anders sein. Die Ökonomie-Institutionen reduzieren ihre Wachstumsprognosen und steigern die prognostizierten Inflationswerte; der Westen will Russland ökonomisch isolieren (mit Ausnahme der Gas- und Ölimporte), die geopolitische Steuerung der Weltgesellschaft und -wirtschaft kann jedenfalls die Illusion von Kooperation und „gemeinsamen Werten“ zumindest vorläufig vergessen, die Migrationsströme aus der Ukraine und Russland, aber auch anderen europäischen Ländern werden die westlichen Länder noch lange beschäftigen, und die Kriegsmaterialien herstellende Industrie reibt sich die Hände. Das Leid der Flüchtenden und Zurückgebliebenen, die immense Zerstörung materieller und immaterieller Werte in der Ukraine und Russland ist kaum wieder gutzumachen.

Kein Wunder, dass die mediale Aufmerksamkeit des Westens auf diesen Krieg gerichtet ist, und vieles vorher als wichtig Rapportierte vernachlässigt: wer erinnert sich noch an die Debatten über Populismus, über die zunehmende Unzufriedenheit der Regierten, die Einkommensverteilung, die Klimakrise, die Corona-Pandemie – alles Phänomene, die noch weiter unter uns wüten.

Aber unter dem Deckmantel der Kriegsberichterstattung versuchen nunmehr verschiedene starke Interessenslobbies, ihre Interessen durchzusetzen, die vielleicht vorher auf Widerstände gestoßen waren.

Prominent sind bisher bekannt geworden:

  • Der deutsche Finanzminister Lindner hat „die Hoffnung“ ausgedrückt, dass der neue „westliche Schulterschluss“ vielleicht doch zu einer Wiederaufnahme des berüchtigten TTIP, des Handels- und Investitionsabkommens der EU mit den USA, welches u.a. mit der Wahl Präsident Trump’s zu Grabe getragen wurde, führen könnte. Wir erinnern uns: der größte Widerstand wurde gegen die in diesem Abkommen vorgesehenen Klagemöglichkeiten einzelner internationaler Unternehmen gegen sie negativ treffende Politikänderungen von Staaten geleistet, Trumps Feldzug gegen die EU war nur der Auslöser der Einstellung.
     
  • Eine ganze Reihe von Interessenvertretern und Politikern drängt angesichts der Folgen der Corona-Pandemie, besonders aber der Kriegsfolgen (Sanktionen) darauf, die geplanten Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimaerwärmung (Green Deals) auszusetzen, bzw. zu verschieben. Prominent dabei der österreichische Bundeswirtschaftskammerpräsident Mahrer. In ganz Europa hat dies zu einer Renaissance der klimaschädlichen Braunkohle, sowie zu einer Verlängerung der Laufzeiten von an sich abzuschaltenden Atomkraftwerken zur Stromerzeugung, mit entsprechender Rendite für deren Betreiber, geführt.
     
  • Die vermeintliche Kriegsbedrohung auch der EU-Staaten führt zu einem Eskalations-Wettlauf der Erhöhung der Militärausgaben. Die NATO-Länder übertreffen einander mit Sonderbudgets; Deutschland will 100 Mrd. € mehr ausgeben, auch die österreichische Verteidigungsministerin will das Militärbudget von derzeit 0,5% des BIP auf 1,5% des BIP steigern. Eine öffentliche breite Diskussion, was die künftige Rolle des Bundesheeres sein soll, was das für die geltende Militärstrategie bedeutet, inwiefern das mit dem österreichischen Verständnis für seine „immerwährende Neutralität“ vereinbar ist, und in welchen Bereichen dieses viele Geld ausgegeben werden soll, sowie wie das zu finanzieren ist, bleibt bisher aus. Die Kriegsindustrie reibt sich die Hände.
     
  • Der brasilianische Präsident öffnet unter dem Deckmantel des Krieges („Rohstoffmangel“) die indigenen Gebiete für brasilianische Bergbauunternehmen.
     
  • Die österreichische Landwirtschaftsministerin setzt einfach die Neubewertung der für die Pauschalierung der Landwirtschaftsbetriebe geplante Neufestsetzung der „Einheitswerte“ aus. Die Großbauern danken.
     
  • Die österreichische energieintensive Industrie fordert (und bekommt teilweise) einen Energiekostenausgleich, da sie sonst nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Niemand fragt, inwieweit sie in Vorjahren große Gewinne gemacht und diese durch Dividendenzahlungen, Bonuszahlungen an ihre Leitungen, sowie Aktienrückkäufe den Kapitaleignern zurückgegeben statt für schwierige Zeiten thesauriert hat. Hand auf!
     
  • Klimabonus, Energiekostenausgleich (mit der Verpflichtung (wie durchsetzbar?) für hoch Verdienende, diesen nicht einzulösen (ist jedenfalls neben einer Reihe von Corona-Verordnungen ernstzunehmender Kandidat für die saure Zitrone für Umsetzungsversagen, sprich Schnapsidee), Verdoppelung des Pendlerpauschales und Ver-xfachung des Pendlereuro, alles Ruck-zuck, alles populistisch und nicht zielgerecht): hier werden Gerechtigkeits- und Green-Deal-Verpflichtungen ohne viel Aufsehen beiseite gewischt.

Die überaus generöse Großzügigkeit des Staates, zur Bewältigung der Coronakrise viel Geld in die Hand zu nehmen (ca. 40 Milliarden Euro), oft nicht zielsicher, vielfach zu Unrecht bezogen, hat Begehrlichkeiten in weiten Kreisen geweckt, dass nun auch „whatever it takes“ zu nicht gut durchdachten, jedenfalls nur unzureichend diskutierten Staatshilfen führen sollte. Wer das wann wie bezahlen soll, wird nicht diskutiert. Klar ist, dass die Masse der Steuerzahler diese Hilfen selbst bezahlen wird. Allein durch die inflationsbedingte „Kalte Progression“ passiert dies bereits jetzt, quasi automatisch: durch die Nicht-Anpassung der Steuer-Grenzwerte an die Inflation rutschen immer mehr Steuerzahler in die höhere Progressionsstufe, wodurch ihre realen Netto-Einkommen sinken.

Es gibt sicher noch eine ganze Reihe anderer klandestiner Vorhaben und Projekte, die sich hinter der Tarnkappe des fürchterlichen Ukraine-Überfalls verstecken. Sie alle sprechen einer ordentlichen Staatsführung Hohn: sie werden nicht ausführlich diskutiert, in ihren Effekten abgewogen, nicht bezüglich Finanzierbarkeit geprüft, und schon gar nicht auf ihre gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen öffentlich untersucht, geschweige denn gegen Alternativen (die auch Null-Alternativen sein könnten) abgewogen. Das dicke Ende kommt für uns Steuerzahler noch sehr dick.

Attac-Finanzexperte Kurt Bayer ist ehem. Gruppenleiter für österreichische und internationale Wirtschaftspolitik im österreichischen Finanzministerium, ehem. Exekutivdirektor der Weltbank und Board Director in der Europäischen Bank für Wiederaufbau (EBRD) in London.

Kurt Bayer betreibt einen eigenen blog: Kurt Bayer's Commentary, auf dem dieser Text zuerst erschien.

Kurt Bayer