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Die Zukunft der EU: Soldaten, Stacheldraht und Überwachung

von Alexandra Strickner, Kai J. Lingnau und Valentin Schwarz

Aufrüstung, Abschottung und klimapolitische Scheinlösungen werden die EU-Politik der nächsten Jahre dominieren. Progressive Kräfte können dennoch einen Unterschied machen – sofern sie einen neuen Umgang mit der EU finden.

Am Tag nach der EU-Wahl herrschte in den Redaktionen liberaler Zeitungen Erleichterung. „Die Euroskeptiker werden immer stärker“, berichtete De Morgen aus Brüssel, „aber der große Handstreich bleibt aus.“ Ähnlich die polnische Gazeta Wyborcza: „Die Verteidiger eines vereinten Europas haben der EU fünf Jahre Zeit gekauft“ und, laut der Neuen Zürcher Zeitung, damit „den großen Angriff der Rechtsnationalen abgewehrt.“

Eine falsche Geschichte

Diese Kommentare erzählen alle dieselbe Geschichte: Die EU stand vor einer existenziellen Bedrohung, doch die proeuropäischen Kräfte konnten sie abwehren. Die „Schicksalswahl“ ist noch einmal gewonnen, das Friedensprojekt gerettet, denn die extreme Rechte hat weniger stark dazugewonnen als befürchtet. Liberale und Grüne zählen zu den Siegern des Abends.

Doch diese Geschichte ist nur die halbe Wahrheit. Das Ergebnis der extremen Rechten kann lediglich bei oberflächlicher Betrachtung erleichtern. Unsere Analyse zeigt wie dominant rechtes Gedankengut bereits in der EU verankert ist. Auch die Einordnung als „Schicksalswahl“ ist aus unserer Sicht falsch. Und wir halten den vermeintlichen Konflikt zwischen guter EU auf der einen und bösen Nationalist*innen auf der anderen Seite für unzutreffend, ja sogar für gefährlich. Nichtsdestotrotz gibt es Handlungsoptionen für progressive und emanzipatorische Kräfte, zu denen wir Grüne, Linke sowie einen Teil der Sozialdemokraten zählen.

Rechtsruck über die Rechte hinaus

Beginnen wir mit dem Abschneiden der extremen Rechten. Ihre Fraktion „Identität und Demokratie“ besetzt im neuen EU-Parlament knapp 10 Prozent der Mandate. Doch diese Zahl unterschätzt den Zuspruch und Einfluss, den ihre Politik genießt. Zum einen sind mehrere Parteien, die in den letzten Jahren die EU-Politik von rechts geprägt haben, außerhalb von „Identität und Demokratie“ tätig: etwa die ungarische Fidesz, die polnische PiS oder die britische Brexit Party.

Zum anderen sind in den letzten Jahren zahlreiche Mitglieder anderer Fraktionen deutlich nach rechts gerückt. Beispiele sind die deutsche CSU, die Asylsuchende pauschal an der Grenze zurückweisen will; die österreichische ÖVP, die Flüchtende auf Internierungs-Inseln festhalten möchte; oder die dänischen Socialdemokraterne, welche die Flüchtlingspolitik ihrer rechten Vorgängerregierung fortsetzen, die unter anderem darin besteht, Geflüchteten ihre Wertsachen abzunehmen. Die autoritäre Wende hat viele politische Lager erfasst. Rechtsextreme Wahlerfolge sind nur ihr oberflächlicher Ausdruck.

Diese Veränderungen der Kräfteverhältnisse auf nationaler Ebene sind für die politische Agenda der EU relevanter als die EU-Institutionen. Sollte Matteo Salvini italienischer Ministerpräsident werden oder die Grünen in die deutsche Regierung kommen, hätte das mehr Auswirkungen als die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament.

Instabilität als großer Trend

Der bloße Blick auf die Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments verdeckt außerdem einen noch größeren Trend: die großen Schwankungen auf nationaler Ebene. So hat die extreme Rechte in Frankreich und Italien stark zugelegt, während sie in den Niederlanden nach dem dritten Platz 2014 diesmal den Einzug verfehlte. Die Sozialdemokratie stürzte in Kernländern wie Deutschland oder Großbritannien ab, während sie in Spanien und den Niederlanden regelrechte Wiederauferstehungen feiern konnten. Der Trend zur politischen Instabilität ist zwar ein EU-weites Phänomen, bildet sich aber im EU-Wahlergebnis nur eingeschränkt ab.

Dieser Trend ist ein Ausdruck des Wunsches nach Veränderung, den viele Menschen seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 verspüren. Sie glauben dem Versprechen, neoliberale Wirtschaftspolitik würde mehr Wohlstand für alle bringen, immer weniger. Privatisierung, Deregulierung und entgrenzter Wettbewerb machen wenige reich, die meisten aber ärmer. Der neoliberale Kapitalismus und das politische System, das ihn trägt, haben daher stark an Vertrauen verloren. Dazu gehört auch die Institution Europäische Union. Denn sie ist einer der stärksten Motoren von Standortkonkurrenz und Austeritätspolitik, die den Lebensstandard von Millionen Menschen innerhalb der EU verschlechtern, die Klimakrise verschärfen und die demokratische Mitbestimmung einschränken.

Durchsetzung nach innen, Expansion nach Außen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die EU in einem konstanten Prozess, von Vertragsänderungen über Krisenpolitik zu vielen kleinen politischen Entscheidungen, verändert. Die neoliberale wirtschaftliche Integration ist mittlerweile der Kern der EU und fest in den Verträgen und den Institutionen verankert. Sie hat einen bestimmenden Einfluss auf alle weiteren Politikfelder. Auch in den letzten Jahren war die Erweiterung des neoliberalen Wirtschaftsregimes der bestimmende Faktor der EU-Politik. Maßnahmen wie der Fiskalpakt, das Europäische Semester oder der Europäische Stabilitätsmechanismus haben allerdings dazu geführt, dass Staaten zu Einschnitten bei Sozialleistungen, Löhnen und Arbeitsrechten gezwungen waren. Diese Politik hat die Wirtschaftskrise verschärft und deswegen an Unterstützung verloren.

Daher erwarten wir wirtschaftspolitisch in den kommenden Jahren nach innen hin weniger einen Ausbau als eine verstärkte Durchsetzung des bestehenden neoliberalen Vertragswerks: Eine strengere Durchsetzung der neoliberalen Budgetregeln sowie die Vollendung der Bankenunion und des Binnenmarkts. Ein Beispiel dafür ist der vorerst gescheiterte Versuch der EU-Kommission, sich ein Vetorecht gegen neue Regulierung von Dienstleistungen bis hinunter auf die Gemeindeebene zu verschaffen.

Nach außen hin, erwarten wir weiterhin die Fortsetzung der bisherigen expansiven Handelspolitik. So verhandelt die EU-Kommission seit 2018 im Auftrag des EU-Rats die Etablierung eines multilateralen Investitionsgerichtshof und treibt weitere Handelsabkommen nach dem Muster von CETA voran, wie aktuell etwa das EU-Mercosur-Abkommen oder TTIP 2.0. Gleichzeitig wird in der Kommission allerdings eine protektionistischere Industriepolitik vorbereitet. Geänderte Wettbewerbsregeln, öffentlichen Investitionen und Schutzzölle sollen demnach helfen europäische Schlüsselindustrien und Champions aufzubauen und im internationalen Handel zu unterstützen.

Aus Hoffnung wird Angst

Die progressiven Parteien kritisieren zwar einzelne dieser wirtschaftspolitischen Vorhaben, aber sie wagen es kaum, grundsätzliche Fragen anzusprechen, die das Wirtschaftssystem oder die Europäische Union betreffen. Das nutzt die extreme Rechte, indem sie die Unzufriedenheit auf Themen wie Migration und Sicherheit umlenkt. Parteien der politischen Mitte – Konservative, Liberale und große Teile der Sozialdemokraten - wollen die neoliberale Wirtschaftsweise, die sie selbst in den EU-Verträgen fest verankert haben, nicht antasten. Habe sie diese doch lange als wohlbringend für alle dargestellt. Stattdessen machen sie es der extremen Rechten gleich: sie lenken die steigende Unzufriedenheit der Menschen auf Themen wie Migration und Sicherheit um. Sie ersetzen schrittweise ihre langjährige Politik und Erzählung der Hoffnung, die EU würde Wohlstand, Freiheit und Demokratie bringen, durch eine Politik und Erzählung der – oftmals geschürten – Angst, etwa vor Kriminalität, Terror, Krieg oder Migration. Bereits in den letzten Jahren haben genannte Fraktionen diese Politik nach außen sowie nach innen immer mehr ins Zentrum gestellt. Sie verkaufen die EU nun durch Angst statt durch Hoffnung.

Der Jurist und Politikwissenschaftler Lukas Oberndorfer spricht von einem „europäischen Sicherheitsregime“, an dem die politischen Eliten arbeiten, um der EU eine neue Existenzberechtigung zu geben. Dazu greifen sie Forderungen der extremen Rechten auf und behaupten, diese seien nur auf EU-weiter Ebene umsetzbar. „Wir benötigen die EU, um nicht nur Frieden und Demokratie, sondern auch die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten“, formulierten die EU-Regierungschef*innen in ihrer Erklärung von Bratislava 2016. Anschließend kündigten sie eine Reihe von Maßnahmen an, die Flüchtende aus Europa fernhalten, die Überwachung in der EU verschärfen sowie die militärische Zusammenarbeit ausbauen sollen.

Daraus folgt unsere Hypothese, dass die folgenden drei Schwerpunkte eine zentrale Stellung in der EU-Politik der kommenden Jahre einnehmen werden.

Schwerpunkt 1: Die EU-Armee

Das neue Lieblingsprojekt der politischen Eliten auf dem Weg zu einem europäischen Sicherheitsregime ist der Aufbau einer EU-Armee. Die dafür vorhandene Koalition ist breit, reicht von Konservativen wie Angela Merkel über Liberale wie Emmanuel Macron bis zu Sozialdemokrat*innen wie Pedro Sánchez. Auch die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist Fürsprecherin einer EU-Armee. Zudem scheidet mit dem Vereinigten Königreich ein langjähriger Blockierer europäischer Militärintegration aus der EU aus.

Wesentliche Schritte dorthin sind bereits getan: Der 2017 gestartete European Defence Fund stellt für die Entwicklung neuer Waffensysteme und militärischer Infrastruktur Milliarden zur Verfügung – teilweise aus dem EU-Budget, obwohl Artikel 41(2) des EU-Vertrags das verbietet. Rüstungsausgaben sind grundsätzlich von den Austeritätsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts ausgenommen, während Investitionen in die öffentliche Infrastruktur oder den Sozialstaat eingeschränkt bleiben. Im Militärbündnis PESCO verpflichten sich 25 von 28 EU-Staaten seit 2017 zur regelmäßigen Erhöhung ihrer Ausgaben für Waffen und Militärforschung sowie zur Beteiligung an EU-Kampftruppen. Wofür die EU-Armee einmal eingesetzt werden könnte, lässt beispielsweise die „New Strategic Agenda 2019-2024“ vermuten. Die EU solle ihren Einfluss in der Welt „entschlossener und effektiver“ ausüben, heißt es dort. Alle Politikbereiche müssten genutzt werden, um „den europäischen Interessen in Wirtschaft, Politik und Sicherheit zum Durchbruch zu verhelfen.“ Nur so könne die Trägerin des Friedensnobelpreises „anderen Weltmächten gleichberechtigt gegenübertreten.“

Schwerpunkt 2: Stacheldraht nach außen, Überwachung nach innen

Rechtsextreme Forderungen übernehmen und europäisieren: Nirgendwo wird diese Strategie der politischen Eliten so klar wie beim Thema Flucht und Migration. Als „Best Practice“ gilt der Deal mit der Türkei, die gegen Bezahlung verhindert, dass Flüchtende aus Syrien und anderen Krisengebieten die Grenze in die EU überschreiten. Die Folge sind „willkürliche Verhaftungen, unmenschliche und entwürdigende Lebensbedingungen und Verletzungen der Flüchtlingskonvention“, wie Amnesty in einem Bericht festhält, sowie Deportationen in Kriegsgebiete. Nach diesem Vorbild will die EU nun Migrationspakte mit zahlreichen Herkunfts- und Transitstaaten schließen.

In Libyen finanziert die EU bereits eine Milizen-Küstenwache. Sie werden dafür bezahlt, Flüchtende an der Überfahrt nach Europa zu hindern und sie in libysche Lager zu verschleppen. Wie ein UN-Bericht festhält, kommt es dort regelmäßig zu Hinrichtungen, Folter und Versklavungen – unter direkter Beteiligung der EU-finanzierten Milizen. Im Juni 2018 beschlossen die Regierungschef*innen, in Zukunft eigene Lager außerhalb der EU errichten zu wollen, die sie beschönigend „Ausschiffungsplattformen“ nennen. Die EU-Grenzagentur Frontex soll bis 2024 von 1.500 auf 10.000 MitarbeiterInnen aufgestockt, ihr Budget verfünffacht werden. Jene Behörde, die schwere Menschenrechtsverletzungen deckt und selbst begeht, wird in den kommenden Jahren um ein Vielfaches mächtiger werden.

Zugleich nimmt die Überwachung der Menschen innerhalb der EU immer weiter zu. Schon 2017 beschlossen die Regierungschef*innen den Aufbau eines elektronischen Ein- und Ausreisesystems. Laut dem zuständigen Kommissar soll dieses alle in der EU lebenden Menschen biometrisch erfassen und per Kamera identifizierbar machen. Direkt nach der EU-Wahl erteilten die EU Innen- und Justizminister*innen der Kommission den Auftrag, die bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof untersagte Vorratsdatenspeicherung weiterzuverfolgen und mit den USA über gegenseitigen Datenzugriff zu verhandeln. Das Ziel: die Überwachung im Internet verschärfen.

Schwerpunkt 3: Klima – Symbolpolitik in der realen Krise

Das Klima ist das Thema der Stunde. Die immer dramatischeren Auswirkungen der Klimakrise und der Druck der sozialen Bewegungen wie Fridays for Future zwingen es auf die politische Agenda. Ursula Von der Leyen kündigte in ihrer Bewerbungsrede vor dem EU-Parlament einen „Green Deal für Europa“ an. Die bisher bekannten Eckpunkte legen nahe, dass es sich dabei eher um Scheinmaßnahmen und leere Versprechungen handeln wird. Die Ziele gehen nicht weit genug, um den Klimakollaps aufzuhalten, und sind zudem mit den genannten Maßnahmen zudem nicht zu erreichen. Eine ernsthafte Klimapolitik ist nicht zu erwarten, denn diese müsste etliche Grundpfeiler der neoliberalen EU umwerfen: die Austeritätspolitik, die öffentliche Investitionen hemmt; die Agrarpolitik, die industrielle statt nachhaltige Landwirtschaft fördert; die Handelspolitik, die maximalen Warenverkehr ohne Rücksicht auf ökologische Verluste vorantreibt; oder die Verkehrs- und Energiepolitik, die Konzerninteressen vor Klimaziele stellen.

Wir erwarten jedoch, dass zivilgesellschaftlicher Widerstand und die immer spürbareren Auswirkungen der Erderhitzung den Druck spürbar erhöhen werden und so immer mehr an den Grundfesten dieser Wirtschaftsordnung gerüttelt wird.

„Mehr Europa“ ist heute eine Gefahr

Der tiefgreifende Rechtsruck, die Instabilität des politischen Systems und ihre Vertrauenskrise bestimmen also heute die Agenda der EU. Sie befindet sich im Übergang vom weltoffenen zum autoritären Neoliberalismus.

In der Hoffnung auf einen Kurswechsel setzen weiterhin viele Progressive auf die Formel „mehr Europa“. Eine vertiefte Integration samt Aufwertung des EU-Parlaments, so die Annahme, könnte die EU sozialer und demokratischer machen. Die Realität sieht anders aus: Eine Änderung der EU-Verträge nach progressiven Ideen ist rechtlich wie politisch so gut wie ausgeschlossen. Eine klare Mehrheit in den EU-Institutionen wie in den Mitgliedstaaten steht für neoliberale Wirtschaftspolitik, Militarisierung und ein menschenverachtendes Grenzregime. Wer unter diesen Kräfteverhältnissen „mehr Europa“ fordert, macht sich, ob gewollt oder nicht, zum Erfüllungsgehilfen dieser Politik. Auch die in der Realität diskutierten Vertiefungspläne der letzten Jahre, etwa der Fünf-Präsidenten-Report von 2015, wollen das neoliberale Wirtschaftsregime verschärfen.

Gerne wird von Progressiven das Argument angeführt, das EU-Parlament könne der Motor einer grundlegenden Kursänderung sein. Dies erweist sich jedoch ein ums andere Mal als illusorisch. Das jüngste Beispiel ist die Bestellung der neuen Kommissionspräsidentin, bei der die Staats- und Regierungschef*innen die Volksvertretung und ihre Spitzenkandidat*innen einfach übergingen. Es hat schlichtweg nicht die politische Macht dafür und wird zudem immer durch die in den Verträgen verankerten neoliberalen Grundpfeiler in seinen Handlungsoptionen beschränkt sein.

Der Realität ins Auge blicken

Der Alarmismus, der sich in Begriffen wie „Schicksalswahl“ und der Erzählung eines „Abwehrkampfs“ rund um die Wahl ausdrückt, geht außerdem schlicht an der Realität vorbei. Die extreme Rechte ist seit langem auf dem Vormarsch. Das neoliberale Wirtschaftsregime der EU ist ihr idealer Nährboden. Vor allem, was das Grenzregime betrifft, bestimmt sie bereits weitgehend den Kurs. Je näher die extreme Rechte jedoch der Macht kommt, desto mehr rückt ihre angebliche Feindschaft zur EU in den Hintergrund. Le Pen, Salvini und Hofer wollen die EU nicht zerstören, sondern übernehmen und nach ihren Vorstellungen umbauen.

Progressive Kräfte sollten sich daher von der ideologischen Identifikation mit der EU lösen und sie als das behandeln, was sie ist: eine Ebene politischer Macht. Die EU kann Gesetze erlassen und sie hat Mittel und Institutionen diese durchsetzen. Dies tut sie in Krisenzeiten teils mit autoritären Mitteln, ob gegenüber Griechenland oder Flüchtenden. Ebenso wie jede andere politische Institution ist die EU das historische Produkt von politischen Interessen und Kräfteverhältnissen. Die lagen meistens auf der Seite des Kapitals. Die grundlegende Konstruktion der EU nützt in erster Linie deren Interessen und bremst jene der breiten Bevölkerung aus. Die vier sogenannten „Grundfreiheiten“ spiegeln dies z.B. wieder: sind sie doch weitgehend Freiheiten für Kapitalinteressen und stellen für die Mitgliedsstaaten und ihre Bürger*innen eine „Beschränkung zur Regulierung“ dar. Ebenso wenig wie wir die UN, OECD, G7 oder den Nationalstaat anhimmeln die Lösung aller Probleme zu sein, sollten wir die EU auch nicht als Retter vor allem Unheil betrachten.

Falsche Gegensätze überwinden

Der wichtigste Schritt von dem, was progressive Kräfte in und außerhalb von Parlamenten tun können, ist aufzuhören die EU zu idealisieren. Leider führen viele von ihnen Debatten und Konflikte nach dem Gegensatz „pro-“ gegen „antieuropäisch“. Auch 2019 folgten zahlreiche Wahlaufrufe dem Motto „Wir müssen die gute EU gegen die bösen Rechten verteidigen“. Statt das neoliberalen Establishment zu kritisieren, reihen sie sich in ihr „proeuropäisches“ Lager zur Verteidigung der EU ein. Den Rechten überlassen sie damit das Monopol auf grundsätzliche Kritik und stärken diese damit.

Diese Art der Mobilisierung mag zwar kurzfristig funktionieren und hat im Zusammenspiel mit der Hoffnung die EU sei reformierbar sicherlich zum guten Abschneiden der Grünen beigetragen. Doch langfristig nützt dieser Gegensatz nur dem neoliberalen Establishment sowie der extremen Rechten. Denn das „proeuropäisch“ steht für den die existierenden Regeln und beschriebene Politik. „Antieuropäisch“ ist hingegen momentan von den Rechten besetzt und steht für Nationalismus und Kleinstaaterei. Für progressive Kräfte ist in dieser falschen Frontstellung absolut kein Platz. Darum gilt es diesen falschen Gegensatz aufzubrechen, offen zu hinterfragen und explizit damit zu sein für welche Ziele man kämpft z.B. für eine humane Flüchtlingspolitik, für einen kulturellen Austausch oder für eine harmonisierte Steuerpolitik.

Progressive müssen ihre konkreten politischen Ziele in den Mittelpunkt stellen, nicht „die EU“, und sich dann fragen, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Für jedes Feld wird eine andere politische Ebene der richtige Ansatzpunkt sein. Der Weg über die EU kann bei einzelnen Projekten zielführend sein. Vielen progressiven Zielen steht die EU jedoch entgegen! Und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Denn die EU wird sich nicht grundsätzlich reformieren lassen.

Strategischer Ungehorsam und neue Kooperationsformen

Was aber können progressive Kräfte in Bezug auf die EU konkret tun? Neben dem offenen benennen, wofür die EU steht, schlagen zwei Dinge vor: Erstens ihre Strategien des Widerstands verbessern und zweitens neue Formen internationaler Kooperation auf- und ausbauen.

Ein Mittel des Widerstands für Gemeinden, Städte, Regionen oder Staaten ist der „strategischen Ungehorsam“. Falsche EU-Regeln sollten von Progressiven umgangen oder gebrochen werden, anstatt sich ihnen zähneknirschend zu fügen. Mit einer geplanten und gezielten Konfrontation lassen sich beispielsweise neoliberale Budgetregeln und ihre Folgen für die Bevölkerung besser politisieren als mit jeder Kommunikationskampagne.

Zugleich geht es darum, die Vorstellung zu überwinden, die EU wäre die einzige mögliche Trägerin internationaler Zusammenarbeit. Bereits jetzt gibt es Gemeinden, Städte und Regionen, die zeigen, dass eine andere Politik möglich ist. Diese können sie mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit, ob an der EU vorbei oder gegen sie, sichtbarer machen. Ein Beispiel dafür auf nationaler Ebene sind die italienischen Bürgermeister*innen, die gemeinsam mit Seenotretter*innen die Umsetzung von Salvinis Flüchtlingspolitik verweigert haben.

Wieder in die Offensive kommen

Die grundsätzliche Funktionsweise der EU, der politische Rechtsruck und die zu erwartenden Schwerpunkte sind Grund genug kritisch mit der EU umzugehen. Dieser kritische Umgang bedeutet für emanzipierte Kräfte sich ideologisch von der EU zu lösen und sich dem Lagerkampf von Pro- und Antieuropäer*innen zu entziehen. Die eigenen Erzählungen und Ziele müssen im Vordergrund stehen. Die EU ist nur eine mögliche Ebene diese umzusetzen. Blockiert die EU solche Ziele jedoch, können sich strategische Ungehorsam und neue internationale Kooperationsformen als passende Mittel erweisen.

Nur mit einem nüchternen Blick auf die EU und neuen Strategien kann es progressiven Kräften gelingen emanzipatorische Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit voranzubringen. Dann werden auch ihre Geschichten wieder die Titelseiten der Zeitungen belegen.

Alexandra Strickner, Kai J. Lingnau und Valentin Schwarz sind Mit-Autor*innen des Buchs „Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist“, das auf Englisch unter dem Titel „The European Illusion“ frei verfügbar ist: https://the-european-illusion.eu/

Dieser Artikel wurde erstmals im Green European Journal veröffentlicht.
 

 

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