von Mario Taschwer
Kann oder soll Österreich ein EU-Defizitverfahren abwenden? Diese Frage bestimmte in den vergangenen Wochen die politisch-mediale Debatte. Doch die zugrundeliegenden EU-Fiskalregeln wurden dabei kaum erklärt oder hinterfragt – stattdessen behandelte man sie wie ein unumstößliches Naturgesetz. Dabei wäre es höchste Zeit für eine kritische Analyse, denn diese Regeln sind undemokratischer und neoliberaler Unsinn.
Hast du brav deine Hausaufgaben gemacht?
Hausaufgaben schreiben, abgeben, warten. Mit roten Korrekturen zurückbekommen, verbessern und erneut einreichen. Ein Plus oder ein Minus kassieren, schlimmstenfalls nachsitzen oder das Jahr wiederholen. Was wie ein Albtraum für Schüler*innen klingt, ist die Realität der Haushaltskontrolle zwischen Brüssel und den EU-Mitgliedstaaten. Der Unterschied? Die EU-Staaten haben sich dieser Disziplinierung selbst unterworfen. Jedes Jahr müssen sie ihre Budgets der EU-Kommission vorlegen, gegebenenfalls nachbessern oder sogar Strafen zahlen.
Die Defizitregeln existieren seit 1992 und wurden seither verschärft und verkompliziert. Seit 2013 legt der EU-Fiskalpakt sanktionierbare Maßnahmen fest. Dieser entstand, nachdem eine von Banken und Finanzkonzernen ausgelöste Finanzkrise durch massive staatliche Hilfsmaßnahmen in eine angebliche "Staatsschuldenkrise" umgedeutet wurde. Während der Pandemie wurden die Regeln ausgesetzt, doch seit 2024 sind sie wieder in Kraft. Neu ist, dass es keine jährlichen Vorgaben mehr gibt, sondern mehrjährige Budgetpläne, die von der EU-Kommission für jedes Land erstellt werden.
Willkürliche Grenzen: 60 und 3
Im Zentrum der Defizitregeln stehen zwei Zahlen: 60 und 3. Der Schuldenstand eines Landes darf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht übersteigen, das jährliche Budgetdefizit nicht mehr als 3 Prozent betragen. Werden diese Werte nicht eingehalten, droht ein "blauer Brief" aus Brüssel – ein Defizitverfahren, das Sparmaßnahmen erzwingt.
Dabei es gibt keine ökonomische Grundlage für diese Zahlen: Die 3-Prozent-Regel entstand 1981 eher zufällig, als ein hoher französischer Finanzbeamter eine simple Richtlinie wollte, die nach ökonomischer Kompetenz klingt. Ohne jede fundierte Analyse erfand ein Mitarbeiter eine Regel basierend auf Frankreichs damaligem Verschuldungsstand. Ein Jahrzehnt später stimmte Deutschland dieser Vorgabe im Maastricht-Vertrag zu. Und weil der durchschnittliche Schuldenstand in der EU damals zufällig bei 60 Prozent lag, wurde auch diese Zahl zum offiziellen Maßstab.
Doch eine starre Grenze, ab der Staatsschulden automatisch zum Problem werden, gibt es nicht nicht. Die USA haben eine Verschuldung von über 120 Prozent, Japan sogar von mehr als 200 Prozent – ohne dass ihre Wirtschaft zusammenbricht. Auch die oft zitierte "wachstumshemmende" Grenze von 90 Prozent ist eine Schimäre: Die dafür verantwortliche Studie der Ökonomen Reinhart und Rogoff diente in der Eurokrise als Argument für eine katastrophale Kürzungspolitik – bis Studierende entdeckten, dass die Berechnungen einen banalen Excel-Fehler enthielten (Spalte ausgelassen) und die gesamte Theorie in sich zusammenfiel.
Ein undemokratisches Diktat
Der ideologische Kern der EU-Fiskalregeln ist undemokratisch und neoliberal. Dahinter steckt nämlich die Annahme, dass über Staatsbudgets besser Technokraten entscheiden sollten als gewählte Parlamentarier*innen. Wie so oft zielt neoliberale Politik auch in diesem Fall darauf ab, den demokratischen Gestaltungsspielraum zu beschneiden, um die Interessen von Kapitalbesitzer*innen zu schützen. Mit der Einführung nationaler Schuldenbremsen, die in Deutschland sogar in die Verfassung aufgenommen wurden, legten sich die Regierungen selbst Fesseln an. Die Folgen sind meist Kürzungen bei Sozialleistungen, geringere Umweltinvestitionen und eine Schwächung von Arbeitnehmer*innenrechten.
Sind Schulden immer schlecht?
Volkswirtschaftlich steht hinter den Defizitregeln das unsinnige Dogma, dass Schulden grundsätzlich schlecht für die wirtschaftliche Entwicklung seien, da sie "künftige Generationen belasten". Doch Staatsschulden sind per se weder gut noch schlecht. Entscheidend ist, wofür Gelder eingesetzt werden: Investitionen in Bildung und Infrastruktur oder Bankenrettungen? Welche Zinssätze gelten? Wer profitiert davon?
Fakt ist, dass nicht die Schuldenhöhe allein den politischen Spielraum bestimmt, sondern der Einfluss von Interessengruppen. Während Regierungen Steuern für Vermögende und Unternehmen senken und Milliardenhilfen für Banken bereitstellen, wird bei Bildung und Sozialleistungen gespart. Es ist nicht die Staatsverschuldung, sondern kurzsichtige Austeritätspolitik, die langfristig "die Zukunft auffrisst".
Kürzungspolitik ist nicht neutral
Die Vorgaben, die auf den europäischen Fiskalregeln beruhen, sind wirtschaftspolitisch nicht neutral. Sie laufen zumeist auf eine Kürzung von Sozialausgaben hinaus. Das Defizitverfahren nützt vor allem einer kleinen wirtschaftlichen Elite, die von niedrigeren Löhnen, verlängerten Arbeitszeiten und weniger Umweltauflagen profitiert; staatliche Investitionen sind nur dann akzeptabel, wenn sie Profit versprechen. Oder haben Sie jemals gehört, dass die EU höhere Steuern für Reiche oder Konzerne vorschlägt? Das extremste Beispiel war Griechenland, wo die Troika eine radikale Sparpolitik durchsetzte: Senkung des Mindestlohns, Reduzierung von Gesundheits- und Bildungsbudgets, massive Kürzungen bei Renten und Sozialtransfers sowie die Privatisierung öffentlicher Dienste zugunsten privater Investoren.
Eine Politik für die Vielen, nicht für die Wenigen
Hinter den EU-Fiskalregeln steht ein ideologischer Dogmatismus, der demokratische Entscheidungsprozesse zugunsten willkürlicher Kennzahlen beschränkt. Was stattdessen nötig wäre, ist eine Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert: Investitionen in gesellschaftliche Infrastruktur wie Bildung, Gesundheit und Soziales. Eine Politik, die das Gemeinwohl stärkt und die Macht der Reichen und Konzerne begrenzt, wäre auch ein wirksames Mittel gegen den Aufstieg der extremen Rechten.
Mario Taschwer ist Wirtschaftsexperte bei Attac Österreich