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Gefahr neuer Virus-Varianten: Prominente Fachleute fordern Freigabe von Patenten

Auch Anschober, Rauch-Kallat, Stöger unterstützen offenen Brief an Regierung

Prominente Gesundheitsexpert*innen und namhafte Persönlichkeiten aus Ökonomie, Politik und Wissenschaft – darunter die ehemaligen Gesundheitsminister*innen Rudolf Anschober, Maria Rauch-Kallat, Alois Stöger und Ex-Vizekanzler Clemens Jabloner – fordern eine Freigabe der Impfstoffpatente.

Bei fehlender Durchimpfung in Ländern des globalen Südens hat das Virus ideale Voraussetzungen zu mutieren. „Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis neue SARS-CoV-2-Varianten bei uns in Europa sind“, sagte der Epidemiologe Gerald Gartlehner bei einer Pressekonferenz am Montag. In einem offenen Brief fordern zahlreiche Fachleute die Regierung und die EU auf, die Freigabe von Patenten für Covid-19-Impfstoffe und Medikamente nicht länger zu blockieren. Dies würde es zahlreichen Ländern ermöglichen, die globale Produktion lebenswichtiger Covid-19-Impfstoffe und Medikamente rasch auszubauen.

Bisherige Verteilung von Impfstoffen und Technologie hat völlig versagt

Alle bisherigen Mechanismen sowohl Impfstoffe als auch Technologien global gerecht zu verteilen, haben versagt (1). In rund 50 der ärmsten Staaten haben derzeit 96 Prozent der Menschen noch keine Impfung gegen Covid-19 erhalten. Tausende Menschen sterben.

„EU-Länder horten Impfstoff-Vorräte. Gleichzeitig verhindern sie durch das Blockieren der Patentfreigabe, dass Länder ohne Vorräte ihre eigenen Impfstoffe produzieren und weltweit kostengünstig zugänglich machen können“, kritisiert Iris Frey, Sprecherin der Kampagne “Patente freigeben - Pandemie beenden” von Attac Österreich bei der heutigen Pressekonferenz.

Globale Triage ist Realität - und politisch herbeigeführt

“Die Triage, die wir national mit größtem Einsatz zu verhindern versuchen, ist auf globaler Ebene traurige Realität: Eine Handvoll Pharmakonzerne entscheidet, wer Zugang zu lebensrettenden Impfstoffen, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung erhält und wer sich diese leisten kann“, kritisiert Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen.

Dabei gibt es weltweit ungenutzte Produktionskapazitäten für Covid-Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung. Ärzte ohne Grenzen hat mindestens sieben Hersteller allein in Afrika identifiziert, die bei Freigabe der Patente in der Lage und willens wären, sofort auf die Produktion von mRNA-Impfstoffen umzurüsten (2). Anders als von der Pharmaindustrie behauptet, ist die Ausweitung der Produktion technisch machbar - gerade bei mRNA-Impfstoffen.

„Wie würde sich die österreichische Regierung positionieren, wenn eine Handvoll afrikanischer Hersteller die Patente für Covid-19-Impfstoffe halten würde? Ende November besteht bei der WTO-Minister*innenkonferenz die Chance auf eine faire Antwort“, sagt Bachmann.

Nicht länger naiv den Erzählungen der Pharmaindustrie folgen!

“Großartige Wissenschafter*innen in öffentlichen Einrichtungen haben die Basis für die Impfungen geschaffen, und die Pharmawirtschaft hat die Konzepte in Höchstgeschwindigkeit in die Wirklichkeit transferiert. Patentrechte führen aber zu künstlicher Knappheit und damit zu exorbitanten Impfstoff-Preisen, die sich vor allem die ärmsten Staaten nicht leisten können (3)”, kritisiert der langjährige Generaldirektor des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, Josef Probst.

Die ohnehin enormen Gewinnmargen der Pharmakonzerne sind damit in der Pandemie nochmals extrem gestiegen. Moderna macht im dritten Quartal 3,3 Milliarden Dollar Gewinn, 66 Prozent Gewinn vom Umsatz. Für 2022 erwarten etwa Pfizer und Moderna zusammen 93 Milliarden Dollar Umsatz mit Impfstoffen und neue Rekordgewinne. „Bei Produktionskosten von rund 1 Dollar und kompletter Übernahme des Marketings durch die Regierungen sind Preise von 20 Euro pro Dosis unverschämt“, sagt Probst (4). “Dass Impfungen für die gesamte Menschheit zugänglich sein sollten, war bis in die 1980er Jahre noch gesundheits- und wirtschaftspolitischer Konsens. (5) In dieser extremen globalen Krise sollten wir auf diesem Grundsatz aufbauen.”

Es ist höchst an der Zeit, dass die Regierungen in Österreich und der EU nicht länger naiv den Erzählungen der Lobbyisten der Pharmaindustrie folgen. Sie würde die Freigabe des Patentschutzes leicht verkraften. Ihr Branchenerfolg kann die volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden niemals aufwiegen”, erklärt Probst.

Was öffentlich finanziert wurde, soll allen zugänglich sein

Die mRNA-Impfstoffe wurden nahezu ausschließlich mit öffentlichen Geldern und erst „auf den letzten Metern“ mit privatem Kapital finanziert. “Daher ist auch das Argument falsch, dass ohne Patente keine Innovation möglich sei”, erklärt Claudia Wild, Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology Assessment. Durch die öffentliche Finanzierung und die hohen Preise bezahlt die Allgemeinheit gleich doppelt für die privaten Profite. Zusätzlich haben großzügige Abnahmegarantien und Haftungsregelungen jegliches Risiko für die Pharmabranche minimiert. Wild: “Aufgrund dieser enormen öffentlichen Vorleistungen ist es nur recht und fair, den Patentschutz aufzuheben.”

Die globale Impfstoff-Ungerechtigkeit macht die Fehlentwicklungen am Pharmamarkt sichtbar. Wild fordert daher grundlegende Reformen, darunter eine Flexibilisierung des Patentschutzes oder offenen Zugang zu Arzneien, deren Erforschung und Entwicklung öffentlich finanziert wurde.

Globale Impfstoff-Ungerechtigkeit verlängert die Pandemie

Patente führen nicht nur zu menschlichem Leid vor Ort, sie verlängern auch die Gefahren der Pandemie für die gesamte Welt. „Aus epidemiologischer Sicht ist es daher auch eine Frage des Eigeninteresses, dass Impfstoffe global zur Verfügung stehen und gerecht verteilt werden“, erklärt Gartlehner.

Internationaler Druck steigt - Entscheidung im November

Auch auf internationaler Ebene steigt der Druck auf die derzeit blockierenden EU-Regierungen die Patentrechte freizugeben. Neben zahlreichen internationalen Kampagnen fordern das auch die Weltgesundheitsorganisation WHO sowie 140 ehemalige Regierungschef*innen und Nobelpreisträger*innen.

In der zuständigen Welthandelsorganisation WTO wird der Antrag Indiens und Südafrikas auf Patentfreigabe mittlerweile von mehr als 105 Ländern inklusive der USA unterstützt. Eine Zustimmung der EU-Staaten würde die nötige ¾-Mehrheit ermöglichen. Die Entscheidung darüber fällt auf der nächsten WTO-Minister*innenkonferenz von 30. November bis 3. Dezember in Genf. Die EU-Staaten müssen ihre Position jedoch schon in den Wochen davor abstimmen. Die Zeit drängt.

Download: Offener Brief mit allen Unterzeichner*innen

Broschüre: Argumente der Pharmaindustrie entkräften

Aufzeichnung:

Anmerkungen:

(1) Dem internationalen Verteilungsmechanismus Covax fehlen allein in diesem Jahr eine rund 500 Millionen Dosen. C-Tap, der freiwillige Pool zum Teilen von Technologie und Patenten der Weltgesundheitsorganisation WHO, ist bisher leer geblieben.

(2) Die New York Times recherchierte Ende Oktober zehn potenzielle Hersteller von mRNA-Covid-Impfstoffen in sechs Ländern auf drei Kontinenten. 

(3) Äthiopien etwa würde zu derzeitigen Preisen mehr als die gesamten Gesundheitsausgaben für 2021 ausgeben müssen, um eine Impfquote von rund 70 Prozent zu erreichen.

(4) Pfizer hat in der EU zunächst 54 Euro je Dosis verlangt. Mittlerweile kassieren Pfizer und Moderna in der EU 19,50 beziehungsweise 22 Euro pro Impf­dosis. 

(5) Der Erfinder des Polio-Impfstoffes Jonas Salk wurde 1955 gefragt, wem das Patent seiner Erfindung gehört. Seine prompte Antwort war: „Ich glaube es gehört den Menschen! Es gibt kein Patent!“.