von Elisabeth Klatzer, Kai J. Lingnau, Etienne Schneider, Valentin Schwarz und Alexandra Strickner
Der Antritt der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen fällt in eine Zeit des Umbruchs. In den letzten Jahren war die Erweiterung des neoliberalen Wirtschaftsregimes der bestimmende Faktor der EU-Politik. Maßnahmen wie der Fiskalpakt, das Europäische Semester oder der Europäische Stabilitätsmechanismus haben dazu geführt, dass Staaten zu Einschnitten bei Sozialleistungen, Löhnen und Arbeitsrechten gezwungen waren. Diese Politik hat die Wirtschaftskrise verschärft und dazu geführt, dass die EU an Unterstützung verloren hat. Die neoliberale EU-Wirtschaftspolitik wird vor diesem Hintergrund zwar fortgesetzt werden, der Schwerpunkt der europäischen Integration verlagert sich aber hin zur Sicherheits-, Migrations- und Geopolitik. Das zeigen auch die bisherigen programmatischen Ankündigungen der neuen EU-Kommissarin Ursula von der Leyen deutlich.
Wirtschaftspolitisch ist in den kommenden Jahren im Inneren weniger mit einem Ausbau als mit einer verstärkten Durchsetzung des bestehenden neoliberalen Vertragswerks zu rechnen: einer strengeren Durchsetzung der neoliberalen Budgetregeln sowie »Vollendung« der Bankenunion und des Deregulierungsprojekts Binnenmarkt etwa. Ein Beispiel dafür ist der vorerst gescheiterte Versuch der EU-Kommission, sich ein Vetorecht gegen neue Regulierungen von Dienstleistungen bis hinunter auf die Gemeindeebene zu verschaffen. Deutschland wiederum möchte den »Rettungsschirm« ESM in einen europäischen Währungsfonds umwandeln, der zwischenstaatlich organisiert ist und die Staaten noch kompromissloser als die EU-Kommission zu Einschnitten bei öffentlichen Leistungen drängen soll.
Nach außen hin ist eine Fortsetzung der bisherigen expansiven Handelspolitik zu erwarten. So verhandelt die EU-Kommission seit 2018 die Gründung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs, der die Paralleljustiz für Konzerne auf internationaler Ebene institutionalisieren würde. Auch treibt sie weitere Abkommen nach dem Muster von CETA voran, wie aktuell etwa das EU-Mercosur-Abkommen (siehe Seite 11) oder TTIP 2.0. »Wann immer notwendig, sollten wir unsere Handelsschutzinstrumente in vollem Umfang nutzen. Und wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Rechte durchsetzen, gegebenenfalls mit Sanktionen, wenn andere die Lösung eines Handelskonflikts blockieren«, so von der Leyen. Gleichzeitig wird in der Kommission allerdings eine protektionistischere Industriepolitik vorbereitet.
Geänderte Wettbewerbsregeln, öffentliche Investitionen und Schutzzölle sollen helfen, europäische Schlüsselindustrien und Champions aufzubauen und sie in der Triadenkonkurrenz mit den USA und China zu unterstützen.
Aus Hoffnung wird Angst
Die progressiven Parteien kritisieren zwar einzelne dieser wirtschaftspolitischen Vorhaben, aber sie wagen es kaum, grundsätzliche Fragen anzusprechen, die das Wirtschaftssystem oder die EU betreffen. Das nutzt die extreme Rechte, die Unzufriedenheit auf Themen wie Migration und Sicherheit umlenkt. Parteien der politischen Mitte wollen die neoliberale Wirtschaftsweise, die sie selbst in den EU-Verträgen fest verankert haben, nicht antasten. Stattdessen übernehmen sie Positionen der extremen Rechten und europäisieren sie. Sie ersetzen schrittweise ihre langjährige Politik und Erzählung der Hoffnung, die EU würde Wohlstand, Freiheit und Demokratie bringen, durch eine Politik und Erzählung der Angst, etwa vor Kriminalität, Terror, Krieg oder Migration. Von der Leyen rechtfertigt ihre Projekte für die EU etwa so: »Die Welt von heute fühlt sich immer unsicherer an. Bestehende Mächte beschreiten allein neue Wege. Neue Mächte entstehen und etablieren sich.«
Der Jurist und Politikwissenschaftler Lukas Oberndorfer spricht von einem »europäischen Sicherheitsregime«, an dem die politischen Eliten arbeiten. 2016 formulierten die EU-Regierungschef*innen in ihrer Erklärung von Bratislava: »Wir benötigen die EU, um nicht nur Frieden und Demokratie, sondern auch die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten.« Anschließend kündigten sie eine Reihe von Maßnahmen an, die Flüchtende aus Europa fernhalten, die Überwachung in der EU verschärfen sowie die militärische Zusammenarbeit ausbauen sollen. Von der Leyen beruft sich auf die »Verteidigung unserer Grundwerte« und den »Schutz des europäischen Lebensstils«, womit imaginäre Bedrohungsszenarien ganz im Stile der Rechtsextremen verstärkt werden. Daraus folgt unsere These, dass in den nächsten Jahren die folgenden drei Schwerpunkte die Politik der neuen EU-Kommission dominieren werden.
Die EU-Armee
Das neue Lieblingsprojekt der politischen Eliten auf dem Weg zu einem europäischen Sicherheitsregime ist der Aufbau einer EU-Armee. Auch die neue Kommissionspräsidentin ist Fürsprecherin einer EU-Armee, sie will eine echte Verteidigungsunion mit der NATO als Eckpfeiler und spielt auch hier mit der Angst, um die Aufrüstung zu begründen: »Die Sicherheitsbedrohungen nehmen immer vielfältigere Formen an und sind unvorhersehbar. Schwere und akute hybride Bedrohungen sind längst Realität.« Hinzu kommt: Mit dem Vereinigten Königreich scheidet ein langjähriger Blockierer europäischer Militärintegration aus der EU aus.
Wesentliche Schritte dorthin sind bereits getan: Der European Defence Fund (EDF) stellt für die Entwicklung neuer Waffensysteme und militärischer Infrastruktur im neuen Finanzrahmen (2021-27) Milliarden zur Verfügung - aus dem EU-Budget, obwohl Artikel 41(2) des EU-Vertrags das verbietet. Die EU-Kommission hat allein für den EDF 13 Milliarden Euro vorgesehen, ein Vielfaches davon aus anderen Töpfen wie Forschung und Infrastruktur. Von der Leyen will das Budget noch weiter erhöhen. Die Schaffung einer neuen Generaldirektion für Militärindustrie passt ins Bild. Alle diese Schritte sollen die »strategische Autonomie« und »Souveränität« der EU im Bereich von Militärtechnologie in der Triadenkonkurrenz stärken. In diesem Sinne versteht sich die neue Kommission auch explizit als eine »geopolitische Kommission«.
Im Militärbündnis PESCO (ak 645) verpflichten sich 25 von 28 EU-Staaten seit 2017 zur regelmäßigen Erhöhung ihrer Ausgaben für Waffen und Militärforschung sowie zur Beteiligung an EU-Kampftruppen. Wofür die EU-Armee einmal eingesetzt werden könnte, lässt beispielsweise die »New Strategic Agenda 2019-2024« vermuten. Die EU solle ihren Einfluss in der Welt »entschlossener und effektiver« ausüben, heißt es dort. Alle Politikbereiche müssten genutzt werden, um »den europäischen Interessen in Wirtschaft, Politik und Sicherheit zum Durchbruch zu verhelfen«. Nur so könne die Trägerin des Friedensnobelpreises »anderen Weltmächten gleichberechtigt gegenübertreten«. Mehrheitsentscheidungen sollen die Durchsetzung der militär- und außenpolitischen Interessen zum Aufbau der EU als Großmacht beschleunigen.
Stacheldraht nach außen, Überwachung nach innen
Rechtsextreme Forderungen übernehmen und europäisieren: Nirgendwo wird diese Strategie der politischen Eliten so klar wie beim Thema Flucht und Migration. Als »Best Practice« gilt der Deal mit der Türkei, die gegen Bezahlung verhindert, dass Flüchtende aus Syrien und anderen Krisengebieten die Grenze in die EU überschreiten. Die Folge: »Willkürliche Verhaftungen, unmenschliche und entwürdigende Lebensbedingungen und Verletzungen der Flüchtlingskonvention«, wie Amnesty in einem Bericht festhält, sowie Abschiebungen in Kriegsgebiete. Nach diesem Vorbild will die EU nun Migrationspakte mit zahlreichen Herkunfts- und Transitstaaten schließen. Auch von der Leyen betont, dass diese stärkere Zusammenarbeit mit Drittländern entscheidend ist.
In Libyen bezahlt die EU bereits eine Milizen-Küstenwache dafür, Flüchtende an der Überfahrt nach Europa zu hindern und sie in libysche Lager zu verschleppen. Wie ein UN-Bericht festhält, kommt es dort regelmäßig zu Hinrichtungen, Folter und Versklavungen - unter direkter Beteiligung der EU-finanzierten Milizen. Im Juni 2018 beschlossen die Regierungschef*innen, in Zukunft eigene Lager außerhalb der EU errichten zu wollen (so genannte »Ausschiffungsplattformen«). Die EU-Grenzagentur Frontex, die schwere Menschenrechtsverletzungen deckt und selbst begeht, soll bis spätestens 2027 von 1.500 auf 10.000 Mitarbeiter*innen aufgestockt, ihr Budget verfünffacht werden - nach Wunsch von der Leyens sogar noch rascher.
Zugleich nimmt die Überwachung der Menschen innerhalb der EU weiter zu. Schon 2017 beschlossen die Regierungschef*innen den Aufbau eines elektronischen Ein- und Ausreisesystems. Laut dem zuständigen Kommissar soll dieses alle in der EU lebenden Menschen biometrisch erfassen und per Kamera identifizierbar machen. Direkt nach der EU-Wahl im Mai dieses Jahres erteilten die Innen- und Justizminister*innen der Kommission den Auftrag, die bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof untersagte Vorratsdatenspeicherung weiterzuverfolgen und mit den USA über gegenseitigen Datenzugriff zu verhandeln. Wiederum wird Angst vor »schwerer Kriminalität und Terrorismus in Europa« geschürt, um eine Rechtfertigung zu konstruieren.
Klima - Symbolpolitik in der realen Krise
Das Klima ist das Thema der Stunde. Die immer dramatischeren Auswirkungen der Klimakrise und der Druck der sozialen Bewegungen wie Fridays for Future zwingen es auf die politische Agenda. Ursula von der Leyen kündigte in ihrer Bewerbungsrede vor dem EU-Parlament Mitte Juli einen »Green Deal für Europa« an. Die bisher bekannten Eckpunkte legen nahe, dass es sich dabei eher um Scheinmaßnahmen und leere Versprechungen handeln wird.
Die CO2-Reduktions-Ziele gehen nicht weit genug, um den Klimakollaps aufzuhalten, und sind mit den genannten Maßnahmen nicht zu erreichen. Eine ernsthafte Klimapolitik ist nicht zu erwarten, denn diese müsste etliche Grundpfeiler der neoliberalen EU umwerfen: die Austeritätspolitik, die öffentliche Investitionen hemmt; die Agrarpolitik, die industrielle statt nachhaltige Landwirtschaft fördert; die Handelspolitik, die maximalen Warenverkehr ohne Rücksicht auf ökologische Verluste vorantreibt und mit hohen Transportemissionen verbunden ist; oder die Verkehrs- und Energiepolitik, die Konzerninteressen vor Klimaziele stellen.
Wir erwarten jedoch, dass zivilgesellschaftlicher Widerstand und die immer spürbareren Auswirkungen der Erderhitzung den Druck deutlich erhöhen werden. Die politische Herausforderung besteht jetzt darin, diesen Widerstand mit einer Kritik an den neoliberalen Grundpfeilern der EU zu verbinden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sich progressive Kräfte aus der ideologischen Identifikation mit der EU lösen. »Mehr Europa« bedeutet unter den existierenden Kräfteverhältnissen eine Verschärfung des neoliberalen Wirtschafts- und Sicherheitsregimes. Nur allzu oft reiht sich die Linke bereitwillig in ein undefiniertes »pro-europäisches« Lager ein, in dem das neoliberale Establishment den Ton angibt. Den Rechten wird so das Monopol auf grundsätzliche Kritik an der EU überlassen.
Progressive müssen ihre konkreten politischen Ziele in den Mittelpunkt stellen, nicht »die EU«, und sich dann fragen, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Für jedes Feld wird eine andere politische Ebene der richtige Ansatzpunkt sein. Der Weg über die EU kann bei einzelnen Projekten zielführend sein. Andere Ziele werden nur an der EU vorbei oder gegen sie durchsetzbar sein. Eine fundamentale Reform der EU, wie sie viele Progressive anstreben, wird von den EU-Verträgen de facto unmöglich gemacht.
Damit progressive Kräfte wieder in die Offensive kommen, sollten wir unter anderem auf »strategischen Ungehorsam« und neue europäische Kooperationsformen setzen: Falsche EU-Regeln sollten umgangen oder gezielt politisiert und gebrochen werden, wo sie der Umsetzung progressiver Projekte im Wege stehen - etwa bei der Rekommunalisierung öffentlicher Infrastruktur. Damit Gemeinden, Städte und Regionen diesem Konflikt standhalten können, müssen sie zugleich europaweit kooperieren. Die EU hat kein Monopol auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Nur mit einem nüchternen Blick auf die EU und mit neuen Strategien kann es progressiven Kräften gelingen, emanzipatorische Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit voranzubringen.
Elisabeth Klatzer, Kai J. Lingnau, Etienne Schneider, Valentin Schwarz und Alexandra Strickner sind bei Attac Österreich aktiv. Der Artikel entstand aus dortigen Diskussionen und basiert auf dem Artikel »Die Zukunft der EU: Soldaten, Stacheldraht und Überwachung« von Alexandra Strickner, Kai J. Lingnau und Valentin Schwarz.
Der Text erschien zuerst in der Monatszeitung analyse & kritik, Nr. 654 / 12.11.2019