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Revolution von unten - Die Wirtschaftskritik von Papst Franziskus

Für einen radikalen Paradigmenwechsel in Richtung einer gerechteren Weltordnung

Eine Analyse der Attac-Gruppe Kritisches Wissen

Fratelli tutti“ – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft lautet der Titel der neuen Sozialenzyklika, veröffentlicht Anfang Oktober 2020. Mit der Anrede Fratelli tutti wandte sich seinerzeit Franz von Assisi an alle Brüder und Schwestern, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen (Nr. 1). -  Im Italienischen fehlt ein eigenes Wort für „Geschwister“. Fratelli kann sowohl Brüder wie auch Geschwister bedeuten. So erklärt sich die inklusive Rede- und Schreibweise.

Gegen die gegenwärtigen Schatten einer abgeschotteten Welt (9) setzt Papst Franziskus auf eine universale Geschwisterlichkeit, die im Anschluss an Franz von Assisi alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt. Dabei stellt nicht der Coronavirus die größte Bedrohung dar, sondern der sich immer wieder wandelnde Virus des Rassismus, eines national-egoistischen Populismus einerseits und der noch hartnäckigere Virus eines radikalen Individualismus (105), des Marktliberalismus andrerseits, den der Papst als Neoliberalismus (168) geißelt. Diese beiden Viren stützen sich gegenseitig und stehen im Zentrum der Kritik des Papstes. Beide befördern eine Verachtung der Schwachen. Dieser setzt er die Option für die Armen entgegen.

Realismus

Papst Franziskus verschließt seine Augen nicht vor dem Ausschuss der Welt, wenn Menschen nicht mehr als ein vorrangiger zu respektierender und zu schützender Wert empfunden [werden], besonders wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – „noch nicht nützlich sind“ oder – wie die Alten – ‚nicht mehr nützlich sind‘… So werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen ‚weggeworfen‘. Man denke nur an die Müllsammler und die Favelas! Von den „Rändern“ her denkt Franziskus, wie er es auch von seiner Kirche immer wieder fordert.

Diese Aussonderung zeigt sich auf vielfältige Weise, wie etwa in der Versessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden, die solche Maßnahme auslöst. (18-21)

Genährt werden – so die Enzyklika - zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit … von verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten. (22)

Schon in seinem ersten Schreiben, Evangelii Gaudium, sozusagen seiner Regierungserklärung von 2013, bezog Papst Franziskus in aller Deutlichkeit Stellung mit einem Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung:

Ebenso wie das Gebot 'Du sollst nicht töten' eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein 'Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen' sagen. Diese Wirtschaft tötet. … Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. … Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern etwas Neues: … Die Ausgeschlossenen sind nicht 'Ausgebeutete', sondern Müll, 'Abfall'. (53)

Dem setzt Papst Franziskus sein vierfaches Nein entgegen (53 - 60):

  • Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
  • Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
  • Nein zu einem Geld, das regiert statt zu dienen
  • Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt

Kehren wir zur Enzyklika Fratelli tutti zurück. Darin kommt auch das Positive von Unternehmertum und einer sozialen Marktwirtschaft zur Sprache: Wenn die Würde des Menschen geachtet wird und seine Rechte anerkannt und gewährleistet werden, erblühen auch Kreativität und Unternehmungsgeist, und die menschliche Persönlichkeit kann ihre vielfältigen Initiativen zugunsten des Gemeinwohls entfalten. (22) Ebenso wenig stellt er die positiven Fortschritte in der Wissenschaft, der Technologie, der Medizin, der Industrie und in der Wohlfahrt, besonders in den entwickelten Ländern infrage (29).

Die Hoffnung der Marktliberalen jedoch, dass aus der Summe der Verwirklichung der Einzelinteressen letztlich für alle das Beste herauskomme, hält Franziskus für widerlegt und vertritt stattdessen eine weitreichende Form des Gemeinwohldenkens, welches auf das gute Leben für alle abzielt.

Dabei geht er so weit, daran zu erinnern, dass »die christliche Tradition […] das Recht auf Privatbesitz niemals als absolut oder unveräußerlich anerkannt und die soziale Funktion jeder Form von Privateigentum betont« hat. Das Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der für alle geschaffenen Güter ist das »Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung«, es ist ein natürliches, naturgegebenes und vorrangiges Recht. Das Recht auf Privateigentum ist nur noch als ein sekundäres Naturrecht zu akzeptieren, das sich aus dem primären Prinzip der universalen Bestimmung der geschaffenen Güter ableitet, und dies hat sehr konkrete Konsequenzen, die sich im Funktionieren der Gesellschaft widerspiegeln müssen. (120) Und er betont nochmals: Die Unternehmertätigkeit ist in der Tat eine edle Berufung, die darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern… Immer gibt es neben dem Recht auf Privatbesitz das vorrangige und vorgängige Recht der Unterordnung allen Privatbesitzes unter die allgemeine Bestimmung der Güter der Erde und daher das allgemeine Anrecht auf seinen Gebrauch. (123)”

Diese Eigentumsauffassung der kirchlichen Lehre findet sich übrigens schon bei den Kirchenvätern (119) und durchgehend bei Franziskus; so in Evangelii gaudium und Laudato si‘. Franziskus zitiert die Aussagen von Johannes Chrysostomus »Den Armen nicht einen Teil seiner Güter zu geben bedeutet, von den Armen zu stehlen, es bedeutet, sie ihres Lebens zu berauben; und was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern ihnen«. Und er erinnert an die Worte von Gregor dem Großen: »Wenn wir den Armen etwas geben, geben wir nicht etwas von uns, sondern wir geben ihnen zurück, was ihnen gehört«.

Nicht minder fundamental ist folgende Kritik des Papstes: Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht. Der Neoliberalismus regeneriert sich immer wieder neu auf identische Weise (168).

Mit Bezug auf die Coronakrise stellt Franziskus fest: Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen. (168) Dabei denkt er beispielsweise an verschiedene Formen von  Volkswirtschaft und gemeinschaftlicher Produktion sowie wirtschaftlicher Partizipation wie etwa Kooperativen und Genossenschaften (169).

Papst Franziskus ist kein prinzipieller Feind der Marktwirtschaft. Sie kann seiner Auffassung nach sehr wohl sozial gerecht gestaltet sein, nur gelten dafür grundlegende Kriterien wie die Menschenwürde. Eine Soziale Marktwirtschaft, die ihren Namen verdient, ist also darunter subsumierbar.

Revolution von unten

Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir haben Möglichkeiten der Mitverantwortung, die es uns erlauben, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. (77) Diese können eine Revolution von unten hervorrufen: Wir können von unten, bei einer Sache beginnen und für das kämpfen, was ganz konkret und naheliegend ist, und bis zum letzten Winkel des eigenen Landes und der ganzen Welt weitergehen (78). Dafür entwirft die Enzyklika auch Handlungsleitlinien (56).

Das Ziel ist eine Weitung des Blicks, die ausgehend vom Eigenen zu einer alle Menschen einbeziehenden Geschwisterlichkeit befähigt. Ein derartiges Ethos der sozialen Freundschaft als Basis des Politischen ist keine Erfindung des Papstes. Diese Einsicht findet sich schon bei Aristoteles. Im politischen Denken der Aufklärung wiederum steht Brüderlichkeit oder Solidarität neben Freiheit und Gleichheit.

Selbstkritisch weiß jedoch Papst Franziskus: Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit. (16) Dem setzt er entgegen: Trotz dieser dunklen Schatten, die nicht ignoriert werden dürfen, möchte ich … den vielen Wegen der Hoffnung eine Stimme geben. (54) Mit dieser Enzyklika ist ihm das gelungen.

In der „Nacht der Konflikte“ könne jeder einzelne Mensch eine Kerze sein und daran erinnern, dass Licht Schatten besiege. Wenn sich dann mehrere Menschen vereinten, beginne eine Revolution, so der Pontifex. Er appelliert an die Entscheider und setzt zugleich auf Veränderung von unten. Denn nur ein radikaler Paradigmenwechsel in Richtung einer gerechteren Weltordnung könne eine friedliche Zukunft für den Menschen möglich machen.