Ausländische Investoren könnten mit Krisenmaßnahmen Milliarden verdienen
In einer Wirtschaftskrise, die zu Hunger oder Unruhen führen könnte, sah sich ein Finanzminister gezwungen, die Schulden seines Landes nicht zu begleichen, die Währung massiv abzuwerten und die Wasser- und Stromtarife einzufrieren. Das führte dazu, dass 42 transnationale Unternehmen Klagen wegen entgangener Gewinne einleiteten. Das klingt tagesaktuell, ist in Wirklichkeit aber ein Bericht über Argentinien inmitten der Finanzkrise von 2002. Diese Geschichte könnte sich durch COVID-19 in vielen Ländern wiederholen, wenn diese außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen müssen, um die beispiellose wirtschaftliche Schockwelle nach COVID-19 zu bewältigen.
Das Ausmaß der wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 wird erst langsam sichtbar. Die UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) hat vor einem "drohenden finanziellen Tsunami" gewarnt, der zu weltweiten Investitionseinbrüchen um 40 Prozent führen könnte, und hat auf ein 2,5 Billionen Dollar schweres Krisenpaket für Entwicklungsländer gedrängt. Weltweit waren Regierungen gezwungen finanzielle und wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, die vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen wären. Sie mussten nicht nur öffentliche Mittel zur Stärkung der Gesundheits- und Sozialsysteme, zum Schutz der Armen und Schwachen, zur Unterstützung von Arbeitnehmer*innen und Kleinunternehmen aufstellen, sondern sie mussten auch Sofortmaßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel die Aussetzung von Zahlungen an private Unternehmen oder die Übernahme privater Unternehmen zur Herstellung wichtiger Gesundheitsausrüstung.
Die Maßnahmen der Regierungen werden massiven Druck auf die ohnehin schon angespannten öffentlichen Haushalte ausüben, ganz besonders in den Ländern des globalen Südens. Weniger bekannt ist jedoch, dass sie auch eine Welle von Klagen multinationaler Konzerne und Investitionsanwälten auslösen könnten. Diese Klagen könnten im Rahmen der sogenannten ISDS (Investor-State Dispute Settlement), einer Paralleljustiz für Unternehmen und Investoren, erhoben werden. Diese Paralleljustiz ISDS ist im Kleingedruckten fast aller Investitionsabkommen weltweit verankert. Innerhalb der Paralleljustiz haben Unternehmen die Möglichkeit Staaten wegen Gesetzen, Vorschriften und Maßnahmen von Regierungen zu verklagen, die sich möglicherweise auf ihr Geschäft auswirken - selbst wenn diese Maßnahmen angesichts der größten gesundheitlichen Krise, die die Welt je erlebt hat, ergriffen wurden. Durch solche Klagen wird die ohnehin schon immense finanzielle Belastung für viele Staaten noch weiter wachsen.
Das globale Netz von Investitionsabkommen könnte Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 untergraben
Die Paralleljustiz ISDS wird durch ein komplexes Netzwerk von internationalen Handels- und Investitionsabkommen ermöglicht, die allesamt Investitionsschutzklauseln mit ISDS enthalten. Schon bisher haben Konzerne Staaten bereits erfolgreich verklagt - etwa für deren Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der öffentlichen Gesundheit sowie für die Ausweitung des erschwinglichen Zugangs zu Energie, zu sauberem Wasser oder besseren Arbeitsbedingungen. Dieser Zugang zu einer privaten Paralleljustiz ist ausschließlich ausländischen Investoren und Unternehmen vorbehalten und funktioniert nur in eine Richtung: Staaten können Investoren im Rahmen der ISDS-Paralleljustiz nämlich nicht wegen Verletzung der Menschenrechte oder Missachtung von Umweltstandards verklagen.
Die UNCTAD bestätigte kürzlich, dass weltweit bereits mehr als 1000 ISDS Klagen gegen Staaten bekannt sind. Die Zahl der Klagen ist in den letzten zehn Jahren in die Höhe geschnellt, und mit ihnen auch die Höhe der Klagesummen.
Diese exponentielle Kurve der Klagen könnte in Folge von COVID-19 noch weiter ansteigen. Law360, ein spezialisiertes Anwaltsmagazin, schrieb am 8. April 2020: "Für die Geldgeber von Schiedsgerichtsverfahren könnten die letzten Wochen den Beginn eines Booms markieren".
Selbst wenn Klagen von Unternehmen gegen Staaten in der Krise außergewöhnlich und politisch riskant erscheinen mögen, gibt es auch dafür bereits Beispiele. Schon früher haben transnationale Unternehmen, unterstützt von Investitionsanwält*innen und Drittfinanziers, auf Basis internationaler Investitionsabkommen Krisenländer verklagt um Gewinne zu erzielen.
Die Erfahrungen Argentiniens sind hier von besonderer Bedeutung. Trotz einer Krise, in der die Wirtschaft um 28 Prozent schrumpfte und die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze fiel, ließen sich ausländische Investor*innen nicht davon abhalten, Klagen gegen die Regierung einzuleiten. 42 Unternehmen reichten Klagen ein und forderten insgesamt 16 Milliarden Dollar.
Und tatsächlich bereiten Investitionsanwält*innen die Konzerne, die ihre Kunden sind, bereits auf diese „Gelegenheit“ vor. Am 26. März 2020 teilte die internationale Investitions-Kanzlei Aceris Law ihren Kunden mit: "Während die Zukunft ungewiss bleibt, wird als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie wahrscheinlich gegen verschiedene Schutzbestimmungen in bilateralen Investitionsabkommen ("BITs") verstoßen, was in Zukunft Ansprüche ausländischer Investoren nach sich ziehen wird". Mehrere andere Elite-Anwaltskanzleien veröffentlichten ebenfalls Hinweise[1].
Die peruanische Regierung wurde bereits gewarnt, dass die Aussetzung von Mautgebühren für das Straßennetz des Landes - eine Maßnahme, die die Regierung im Zusammenhang mit der COVID-Krise ergriffen hat - zu mehreren Paralleljustiz-Klagen führen könnte.
Die Klagen könnten darauf abzielen, eine Entschädigung für Krisenmaßnahmen zu erhalten – wie etwa in Spanien: Dort hatte die Regierung am 14. März 2020 einen Erlass verabschiedet, der es der Regierung erlaubt "einzugreifen und vorübergehend Industrien, Fabriken, Werkstätten, Bauernhöfe oder Räumlichkeiten jeglicher Art, einschließlich privater Gesundheitszentren sowie solcher deren Aktivitäten im pharmazeutischen Sektor liegen, zu besetzen". Andere Länder haben ähnliche Bestimmungen erlassen. Die italienische Regierung hat nun das Recht private medizinische Ausrüstung zu requirieren, um die öffentliche medizinische Versorgung zu gewährleisten.
Ausländische Investoren könnten den Vorwurf erheben, dass Italien und Spanien gegen das Verbot der direkten Enteignung in Investitionsverträgen verstoßen, indem sie die Beschlagnahme von privatem Unternehmenseigentum und Ausrüstung erlauben. Die vorgeschriebene Schließung aller Geschäfte und die Beschlagnahme privater Produktionsstätten könnten von Investoren als indirekte Enteignung interpretiert werden. Die Regierungen werden sicherlich argumentieren, dass Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit inmitten der gegenwärtigen Krise Teil ihrer legitimen Staatsaufgaben sind.
Das Völkerrecht erlaubt es den Staaten, ihre Maßnahmen mit dem Argument der Notwendigkeit oder extremer Umstände (höhere Gewalt) zu verteidigen. Wissenschaftler*innen haben jedoch davor gewarnt, dass "das Plädieren auf höhere Gewalt sehr schwierig ist und dass Staaten selten Erfolg hatten, wenn sie sich in Angelegenheiten des Völkerrechts auf höhere Gewalt beriefen". Diese Verteidigungslinie hat sich in der Vergangenheit nicht als zielführend erwiesen, um Prozesse oder erfolgreiche und teure Klagen von Investoren zu stoppen. In 11 von 14 Fällen, in denen Argentinien den Notstand zur Verteidigung benutzte, wurde das Argument von der Paralleljustiz zurückgewiesen[2].
Ausländische Investoren könnten Millionen Dollar von den öffentlichen Haushalten abziehen
Gegenwärtig sind weltweit 343 ISDS-Klagen anhängig; die meisten (213 Fälle) richten sich gegen lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Länder. In einigen Ländern des globalen Südens sind ISDS-Klagen in Höhe mehrerer Milliarden anhängig. Mexiko hat 12 anhängige Fälle, die insgesamt 5,4 Milliarden Dollar an Forderungen ausmachen. Indien hat 13 anhängige Fälle mit Ansprüchen in Höhe von 8 Milliarden Dollar. Aber die Klagen sind nicht nur ein Problem für Entwicklungsländer. Spanien, eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder, ist das am zweithäufigsten verklagte Land weltweit. Gegenwärtig führt die spanische Regierung rechtliche Auseinandersetzungen mit acht Investoren; die Konzerne versuchen die Verfahren zu beschleunigen, um insgesamt 739 Millionen Euro einzutreiben[3].
Bis Ende 2018 mussten Staaten in jenen ISDS-Fällen, die bisher öffentlich bekannt worden sind, den Investoren schwindelerregende 88 Milliarden Dollar zahlen.[4] Millionen Dollar an Steuergeldern wanderten - statt in die Finanzierung der öffentlichen Gesundheit, den Zugang zu Nahrungsmitteln und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fließen - in die Taschen von Konzernen.
Die Kosten der ISDS-Forderungen haben zur ohnehin schon hohen Auslandsverschuldung des globalen Südens beigetragen. Jene 88 Milliarden Dollar, die ausländischen Investoren und Investmentanwälten als Folge von ISDS-Klagen bis 2018 zugesprochen wurden, sind fast genauso viel, wie der Internationale Währungsfonds armen Ländern und Schwellenländern zur Bekämpfung der schlimmsten Auswirkungen der Coronavirus-Krise zur Verfügung gestellt hat. Und es ist das 18-fache des Budgets der Weltgesundheitsorganisation für 2020.
Coronavirus-Weckruf: fünf Maßnahmen, die Regierungen sofort ergreifen sollten
Die Tatsache, dass uns die tausendste ISDS-Klage mitten in einer tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise ins Haus steht, sollte ein Weckruf sein. So wie die Pandemie tiefgreifende gesundheitliche Ungerechtigkeiten und die Gefahren agroindustrieller Ernährungssysteme offenlegt, so zeigt sie auch die Gefahren von Handels- und Investitionssystemen auf, die Unternehmensgewinne über Gesundheit und Leben stellen.
Wir brauchen keine Handels- und Investitionsabkommen, die von Investoren dazu benutzt werden können Länder in der Krise zu verklagen. Wir können es uns nicht leisten, dass Investoren die knappen öffentlichen Mittel kassieren, die benötigt werden, um sich von der Rezession nach COVID-19 zu erholen. Verträge, die in Krisenzeiten die Souveränität von Regierungen einschränken und knappe öffentliche Haushalte belasten, sind höchst problematisch.
Die Regierungen sollten dringend Maßnahmen ergreifen um sicherzustellen, dass transnationale Unternehmen und Investitionsanwält*innen nicht zu Nutznießern dieser Pandemie werden - auf Kosten des Wohlergehens und der Gesundheit der Menschen. Regierungen sollten daher:
1.) alle Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen aussetzen.
2.) alle notwendigen Schritte unternehmen, um (unilateral oder multilateral) bestehende Verträge aufzulösen.
3.) eine umfassende Überprüfung (Kosten-Nutzen-Analyse) ihrer gegenwärtigen und geplanten Investitionsabkommen vornehmen.
4.) die Zustimmung zur ISDS-Paralleljustiz zurückziehen, um die unmittelbare Gefährdung durch Klagen zu begrenzen.
5.) "Entschädigungszahlungen" an Investoren, die sich aus den ISDS-Klagen ergeben haben, aussetzen - oder wenigstens einen Schuldenerlass bzw. eine Restrukturierung der Schulden, die sich aus ISDS-Klagen ergeben haben verhandeln.
[1] Einige der Erklärungen, die von auf ISDS-Paralleljustiz spezialisierten Anwaltskanzleien abgegeben wurden, umfassen:
- "Investitionsschiedsverfahren folgen oft auf Wirtschafts-, Finanz- oder andere Krisen", Debevoise & Plimpton, 8. April, www.debevoise.com/-/media/files/capabilities/arbitration/covid19-impact-on-contracts-and-dispute-resolution.pdf
- "Empfehlungen an die Staaten: Die Staaten sollten versuchen sicherzustellen, dass ihre geplanten Maßnahmen im Voraus mit dem Völkerrecht vereinbar sind, um zu vermeiden, dass sie sich mit einer Flut von Schiedsgerichtsverfahren auseinandersetzen müssen", Shearman & Stearling, 14. März, www.shearman.com/perspectives/2020/04/covid-19-international-investment-protection
- "Viele ausländische Investoren sehen sich mit weitreichenden staatlichen Eingriffen in zahlreiche Aspekte ihrer Geschäftstätigkeit konfrontiert (in vielen Gerichtsbarkeiten auch Einschränkungen hinsichtlich des Einsatzes und der Freizügigkeit ihrer Mitarbeiter, der Nutzung ihres Eigentums und der Durchsetzung ihrer vertraglichen Rechte). Einige Investoren haben in Frage gestellt, ob das Ausmaß der verhängten Maßnahmen gerechtfertigt ist oder ob die Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu dem ernsthaften wirtschaftlichen Schaden stehen, den sie anrichten können. “ Herbert Smith Freehills, 9. April, www.herbertsmithfreehills.com/latest-thinking/covid-19-pressure-points-a-balance-of-obligations-the-response-to-the-pandemic-and
- "Die durch COVID-19 verursachte Gesundheitskrise könnte zu einer Chance werden, die Schiedsgerichtsbarkeit zu revolutionieren und ihre Tugenden im Gegensatz zu innerstaatlichen Gerichtsverfahren zu fördern und zu stärken.“ Anwaltskanzlei Garrigues, 24. März, www.garrigues.com/en_GB/new/will-covid-19-revolutionise-arbitration
[2]El Paso Energy Int. Co. (ICSID ARB/03/15); LG&E Energy Corp. (ICSID ARB/02/1); Enron (ICSID ARB/01/3); Suez/Aguas de Barcelona/Vivendi (ICSID ARB/03/19); Suez/Aguas de Barcelona/Interagua (ICSID ARB/03/17); Anglian Water Group (AWG) (UNCITRAL); Continental (ICSID ARB/03/09); CMS Gas (ICSID ARB/01/08); Impregilo (ICSID ARB/07/17); TOTAL S.A. (ICSID ARB/04/01); Sempra Energy (ICSID ARB/02/16)
[3] Nach günstigen Zuschlägen für die Investoren in den Fällen Eiser, Novenergia, Masdar, Infrastructure Services Luxembourg (ehemals Antin), Rreef, NextEraEnergy, 9REN Holding und Infrared Capital Partners haben die Unternehmen Vollstreckungsverfahren in den USA und Australien eingeleitet, damit sie nach Abschluss des Annullierungsverfahrens die spanischen Vermögenswerte eintreiben können.
[4] Berechnung auf der Grundlage der UNCTAD-Datenbank für Fälle bis Dezember 2018. Von den 310 offengelegten Fällen, die zugunsten des Investors entschieden oder beigelegt wurden, wurden in 213 Fällen (69%) Informationen über den Schadenersatz zur Verfügung gestellt.
Ursprünglich als TNI Longread erschienen, übersetzt von Attac Österreich: https://longreads.tni.org/pandemic-profiteers/
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