Wie kann eine klimasoziale Globalisierung aussehen?
von Theresa Kofler und David Walch, Mai 2023
Infolge von Pandemie und Ukraine-Krieg stellen sich sogar Regierungen und Konzerne die Frage, ob die neoliberale Globalisierung nicht „zu weit“ gegangen sei. Doch eine Deglobalisierung, die weiter von geopolitischen Interessen und kapitalistischer Expansion getrieben ist, wird die globalen Probleme nicht lösen, sondern verschärfen.
Die Globalisierung ist kein Naturgesetz
Weltweiter Handel mit Gütern aller Art, uneingeschränkte Kapitalflüsse auf sekundengetakteten Finanzmärkten, allgegenwärtige global agierende Konzerne: Die neoliberale Globalisierung ist ein essenzieller Bestandteil unserer kapitalistischen Wirtschaft. Sie ist aber kein "Naturgesetz" oder nur eine Folge technologischer Innovation. Sie war und ist politisch gestaltet und folgt den verschränkten Expansionsstrategien imperialer Staaten und kapitalistischer Profitlogik. Seit dem Durchbruch des Neoliberalismus in den 1980er Jahren stehen hinter diesen politischen Projekten zunehmend die Interessen immer mächtigerer transnationaler Konzerne und Finanz"investoren". Unter extremem globalen Wettbewerbsdruck öffnen sie laufend neue Märkte und Lebensbereiche durch neoliberale Handelsabkommen, Privatisierungen und "Liberalisierungen" für profitable Investitionen.
WTO, IWF, EU und Co.: Konzerninteressen werden vor der Demokratie geschützt
Um Profitinteressen langfristig völkerrechtlich gegen demokratische Widerstände von unten abzusichern, nutzen Konzerne vor allem internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO, den Internationaler Währungsfonds - IWF, die Weltbank aber auch die Europäische Union.
Die WTO-Abkommen etwa prägen die Welthandelsordnung ganz fundamental in Richtung mehr Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung. Die WTO ist nicht Bestandteil der UNO und damit zu keiner Rücksichtnahme in Bezug auf Menschenrechte, Sozial- und Arbeitsrechte, Umweltschutz, nachhaltige Entwicklung oder Gerechtigkeit verpflichtet. Breite zivilgesellschaftliche Kritik und zunehmende geopolitische Interessenskonflikte zwischen dem globalen Norden, Schwellenländern und dem globalen Süden haben jedoch in den vergangenen Jahren zu einem weitgehenden Stillstand auf Ebene der WTO geführt.
Daher versuchen Konzerne ihre Interessen nun mit einer Vielzahl von zwischenstaatlichen Handels- und Investitionsverträgen à la TTIP, CETA oder EU-Mercosur durchzusetzen. Diese Verträge sollen den Handel weiter liberalisieren und ermöglichen es etwa dem Finanzsektor und Konzernen, ihre Profitinteressen auch auf ehemals öffentliche Bereiche auszuweiten. Gleichzeitig schränken sie die Möglichkeit von Regierungen ein, den Handel und Kapitalströme im Interesse der Allgemeinheit zu regulieren. Eine Paralleljustiz für Konzerne (ISDS) gibt ausländischen Investoren das Recht "Schadenersatz" gegen neue Gesetze im Interesse von Mensch und Umwelt zu einzuklagen, wenn diese ihre Profite einschränken könnten.
Auch die neoliberale Verfassung der EU mit ihren über allem stehenden vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit) schränkt den demokratischen Handlungsspielraum für eine Politik im Allgemeininteresse ein. Insbesondere in der Eurokrise offenbarte sich eine zunehmend autoritäre und antidemokratische Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene. Dazu kommt eine Europäische Zentralbank, die jenseits jeglicher demokratischer Kontrolle agiert.
Die zerstörerischen Folgen der neoliberalen Globalisierung sind lange offensichtlich
Die zerstörerischen Folgen dieser neoliberalen Globalisierung waren schon vor der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg offensichtlich: „Die Macht internationaler Konzerne, globaler Banken und ihrer Partner*innen in den Regierungen haben eine Weltordnung geschaffen, die für Finanzkrisen, steigende Ungleichheit und die Klimakrise verantwortlich ist“, resümierte etwa die UNCTAD 2019.
Im globalen Norden führte die neoliberale Globalisierung zu Produktionsverlagerungen, sinkenden Löhnen, steigender Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Unsicherheit. Staaten des globalen Südens wiederum wurden durch IWF, Weltbank oder über die WTO und bilaterale Handelsverträge neoliberale Rezepte aufgezwungen; eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung wurde so oftmals verhindert. Hunger, Armut, neokoloniale Abhängigkeiten und Ausbeutung (Landraub, Vertreibung, “moderne” Sklaverei) haben sich verfestigt. In Kombination mit der Klimakrise sind immer mehr Menschen zu Flucht und Migration gezwungen.
Ein grundlegender Politikwechsel blieb aus
Kritik und Proteste der weltweiten sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen konnten in den vergangenen 20 Jahren immer wieder erfolgreich zentrale Projekte der neoliberalen Globalisierung stoppen und Alternativen von unten entwickeln: Die WTO-Doha Entwicklungsrunde wurde nie beendet; das multilaterale Investitionsabkommen MAI, die gesamtamerikanische Freihandelszone oder das EU-USA-Abkommen TTIP wurden gestoppt. Zu den Alternativen von unten wie z.B. Praxen und Projekte der Ernährungssouveränität (solidarisches Landwirtschaften, Food Coops) oder Rekommunalisierungen von ehemals öffentlicher Infrastruktur.
Doch ein grundlegender Politikwechsel blieb aus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das europäische Wirtschaftssystem über globale Handels- und Finanzpolitik abgesichert wird. Viele europäische Branchen wären ohne internationalen Handel in der jetzigen Form nicht überlebensfähig: Die Autoindustrie etwa ist auf globale Märkte angewiesen, weil der europäische (fast) gesättigt ist; die Chemiebranche exportiert Pestizide, die in Europa verboten sind; die Agrarindustrie importiert Futtermittel, für deren Produktion es in Europa keine ausreichenden Flächen gibt.
Anstatt einen wirklichen Systemwechsel in die Wege zu leiten, ging es den politischen und wirtschaftlichen Eliten lediglich um die Frage, wie sich die Gesellschaften an die negativen Folgen der Globalisierung anpassen. Und das führte zuletzt nicht nur zu wachsender Ungerechtigkeit und tiefen sozialen Zerrüttungen, sondern auch zu einem massiven Vertrauensverlust in das politische und demokratische System. Davon profitieren heute in vielen Ländern vor allem rechtsextreme und nationalistische Kräfte.
Die Verwerfungen sind zu groß
Angesichts der Verschärfung und Ausweitung der globalen Krisen können die neoliberalen Eliten ihre Erzählung über die Segnungen der wirtschaftlichen Globalisierung nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten. Denn die Verwerfungen dieses Wirtschaftssystems sind zu groß:
- Die Störungsanfälligkeit globaler Lieferketten und von Just in Time Produktion betrifft zahlreiche Produktionszweige und gefährdet die Versorgungssicherheit mit essenziellen Gütern. Die Globalisierung hat uns verwundbar gemacht.
- Die Zerstörung des Planeten (Artenverlust, Klimakrise) bedroht unsere Lebensgrundlagen. Die ärmsten Bevölkerungsgruppen in den Ländern des Globalen Südens leiden am stärksten unter den Folgen wie Bodenerosion, Meeresverschmutzung oder extremen Wetterereignissen, während der CO2-Anstieg zu einem großen Teil auf Emissionen der reichsten 10 Prozent der Welt zurückzuführen ist. Der globalisierte Kapitalismus ist von fossiler Energie abhängig. Immer mehr überflüssiger Handel, „billiger Konsum“ im globalen Norden (ausgelagert in Produktionsstandorte mit den geringsten Sozial- und Umweltstandards), aber auch die globale Ausbreitung der Agrarindustrie basieren darauf. Diese fossile Abhängigkeit führt zu Preisschocks, Verarmung, Milliardenprofiten für Energie- und Rohstoffkonzerne und zur Zunahme von geopolitischen Konflikten.
- Die Globalisierung verschärft die Kluft zwischen Arm und Reich - sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch zwischen Nord und Süd - und gefährdet die Demokratie. Konzerne setzen Löhne, Arbeitsbedingungen und Steuersätze weltweit unter Druck. Und die Ungleichheit nimmt rasant zu: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung hat von Beginn der Corona-Pandemie 2020 bis Anfang 2023 rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses kassiert.
„Ist die Globalisierung zu weit gegangen?“
Als Reaktion auf diese Krisen diskutieren Regierungen und Konzerne heute erstmals die Frage, ob die „Globalisierung nicht doch zu weit gegangen“ sei. Die Klimakrise und Versorgungsengpässe bei lebensnotwendigen Gütern bringen sie immer stärker unter Rechtfertigungsdruck. Mit den Debatten um ein Lieferkettengesetz und Klimazölle gibt es in der EU erste Schritte, um ökologischen und sozialen Aspekten mehr Gewicht zu verleihen.
Immer klarer zeichnen sich dabei neue Blockbildungen ab. Westliche Staaten wollen einerseits ihre eigenen Wirtschaften durch stärkere Regionalisierung absichern, während sie gleichzeitig in strategisch zentralen Industrien vorantreiben und die politisch-militärischen Bande zwischen westlichen Staaten stärken. "Friendshoring” und "wertebasierte Handelspolitik" lauten die neuen Schlagworte der USA und der EU.
Doch diese Agenda ist nicht vorrangig von Werten wie Menschenrechten, Demokratie, sozialen oder ökologischen Motiven getrieben, sondern von zunehmenden geopolitischen Rivalitäten, die sich durch die Krisen noch verstärken. Diese Entwicklung wird auch transnationalen Konzernen neue Strategien abverlangen und kann auch zwischen ihnen zu neuen Spannungen führen.
Keine klimasoziale Transformation
In den USA setzt die Biden-Administration die Handelspolitik Donald Trumps fort, um Produktionsstätten und Arbeitsplätze zurückzuholen. Mit der neuen industriepolitischen Agenda (Inflation Reduction Act, IRA) werden gezielt "grüne" Investitionen in den Bereichen Autos, Batterien und Chips gefördert – auch um diese Produktion aus China zurückzuholen oder neu aufzubauen. Auch wenn das Programm eine positive klimapolitische Kehrtwende zu Donald Trump einläutet, ist eine konsequente Abkehr vom Wachstumszwang, fossiler Energie, klimaschädlicher Mobilität oder Markt(schein)lösungen noch nicht in Sicht. Die politische Macht der Öl- und Gas-Konzerne ist dafür weiter zu groß.
Die Antwort der EU darauf lautet "Green Deal Industrial Plan". Sie setzt jedoch noch weniger auf eine Regionalisierung der Wirtschaft oder gar eine Mobilitäts-, Agrar- und Energiewende. Vielmehr drohen die geplanten "grünen Förderungen" und Steuererleichterungen zur Spielwiese für Lobbyinteressen dominanter Unternehmen zu werden, durch die das Geld weiter überwiegend an Großkonzerne verteilt wird. Dazu passt auch ins Bild, dass die EU drohte, die USA bei der Welthandelsorganisation WTO aufgrund der "Marktverzerrungen" zu verklagen.
Weiterhin treibt die EU neue neoliberale Handelsabkommen wie CETA, EU-Mercosur, EU-Chile oder EU-Mexiko voran – mit dem Vorwand, so die europäische Energiewende und die aktuellen Krisen zu bewältigen. Tatsächlich sollen diese Abkommen den Zugang zu Absatzmärkten (für Pestizide oder Autos) und zu Rohstoffen im Globalen Süden (etwa Lithium für Batterien) oder „strategische Autonomie“ in zentralen Versorgungsbereichen (Halbleiter, Medikamente) ermöglichen. Was fehlt ist etwa das klare Bekenntnis zu einer Mobilitätswende.
Gleichzeitig verfolgt die EU ohne Rücksichtnahme auf Menschenrechte neokoloniale Energie-Projekte im globalen Süden oder verhindert mit der Blockade der Patentfreigabe ebendort eine regionale Arzneimittelproduktion.
Wie kann eine klimasoziale Globalisierung aussehen?
Eine umfassende klimasoziale Transformation unserer Wirtschaftsweise ist überlebensnotwendig. Der Schutz unserer Lebensgrundlagen, soziale Sicherheit, Demokratie, Arbeits- und Menschenrechte (kurz: das gute Leben für alle Menschen) müssen dabei im Zentrum stehen. Produktion, Konsum, Energie- und Ressourcenverbrauch müssen sich vor allem in den reichen Ländern radikal verändern und sinken. Das muss zwangsläufig mit einer Mobilitäts-, Agrar- und Energiewende einhergehen.
Damit ist klar, dass auch die Globalisierung völlig anders gestaltet und geplant werden muss. Der Ausstieg aus fossiler Energie erfordert zwangsläufig eine Reduktion der Welthandelsströme zugunsten regionaler oder überregionaler Wirtschaftskreisläufe. Das bedeutet auch das Aus für geplante und eine grundlegende Überarbeitung bestehender Handels- und Investitionsabkommen. Der Umbau in Richtung regionale Wirtschaftskreisläufe hat jedoch nichts mit nationalistischer Abschottung oder Autarkie zu tun. Eine klimasoziale Globalisierung basiert auf solidarischem Handel, der nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation und dem komplementären – also ergänzendem – Austausch von Waren beruht.
Eine neue Form der Globalisierung heißt zudem in vielen Bereichen wie etwa der Steuer- oder Umweltpolitik eine gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit in demokratisierten globalen Institutionen. In Bereichen wie dem Finanzsektor, der Landwirtschaft oder den öffentlichen Diensten ist eine Rücknahme von Liberalisierung und Deregulierung nötig.
Ein klimasozialer Umbau der Wirtschaft kann letztendlich nur durch demokratische und finanzielle Handlungsspielräume gelingen, die massive öffentliche Investitionen ermöglichen – beispielsweise in saubere Verkehrs- und Energiesysteme und gut ausgebaute, für alle zugängliche und leistbare öffentliche Dienstleistungen. Die Grundlage dafür ist eine massive Umverteilung von Reichtum und Besitzverhältnissen.
Konzernmacht brechen!
Wie gut wir all diese Ziele verwirklichen können, ist nicht vorrangig eine Frage von innovativen Vorschlägen, sondern eine Frage von sozialen Kämpfen und Machtverhältnissen. In welche Richtung sich die Machtverhältnisse verschieben, hängt auch davon ab, wie wirksam soziale Bewegungen weltweit die aktuellen Strukturen herausfordern können.
Die nötigen Verschiebungen/Transformationen bedürfen einer Vielzahl von Strategien: Egal ob wir Widerstand gegen neoliberale Handelsabkommen und Konzernprivilegien leisten, ob wir dafür kämpfen, die Profitlogik in Bereichen wie Wasser, Wohnen, Energie oder Gesundheit zurückzudrängen, ob wir uns für eine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen und konkrete Projekte von unten organisieren: Wir brauchen weiterhin eine starke und vernetzte globalisierungskritische Bewegung, um die Ausweitung der neoliberalen Globalisierung zu stoppen und die globalen Spielregeln im Interesse der Menschen und der Umwelt zu verändern!